So, heute ist es soweit. Das erste Zeugnis. Eine Viertelstunde bevor er los muss, steht der Große startklar mit Ranzen an der Tür. Gestern abend klang es noch freudig erregt, als er singend in der Wanne saß: „Morgen kriege ich mein Zeugnis!“
Heute morgen klingt das schon ganz anders. Was wird da wohl drauf stehen? „Ich bin kein guter Schüler, Mama.“ Mathe fliegt im quasi zu, er rechnet bis 100, ich hatte in dem Alter Schwierigkeiten bei Aufgaben bis 20. Er versucht sich schon in Multiplikation, weil „Plus und Minus ja für Babys sind“. Lesen klappt mittlerweile richtig gut, viel wichtiger aber: Es macht ihm Spaß, er liest, was ihm vor die Nase kommt.
„Aber ich mache immer noch mal Fehler.“ Super, er hat meinen Perfektionismus geerbt, von dem ich mich in langwieriger, mühsamer Arbeit über Jahrzehnte getrennt habe. „Da steht auch drin, wenn ich mal nicht aufgepasst habe.“ Nunja. Und er kennt einen Jungen in der dritten Klasse, der das Schuljahr wiederholen musste. Und schließlich dann die eigentliche Frage, die ihn an diesem Morgen umtreibt: „Seid ihr böse, wenn da was Schlechtes drin steht?“
Vergangene Woche landete auf meinem Schreibtisch im Büro noch die alljährlich wiederkehrende Meldung: Die Städte richten vor den Sommerferien wieder Zeugnistelefone ein. Ich habe mich ernsthaft gefragt, wie viele Kinder diesen Beistand dringend brauchen. Und warum das immer noch so ist.
Wir hatten in diesem ersten Schuljahr zwei Elternsprechtage, bei denen uns die Lehrerin erklärt hat, wo Stärken und mögliche Schwächen liegen. Es gibt Bögen, in denen sich die Kinder selbst einschätzen sollen. Die Lehrerin spricht mit ihnen über die Selbstwahrnehmung und wie sie es sieht. Die Eltern bekommen immer mal wieder Aufgaben mit Leistungseinschätzungen vorgelegt. Eine Grundvoraussetzung für das Elterndasein ist doch, sich für das Kind zu interessieren. Da kommt doch ein Zeugnis nicht überraschend.
Bei uns waren Zeugnisse bisher kein Thema. Bis einschließlich der 3. Klasse gibt es keine Ziffernoten, sondern „Leistungsbeschreibungen“, zwischen ’sicher‘ und ‚Übungsbedarf‘. Also ähnlich wie bei mir früher, als in kurzen Sätzen Leistungen eingeschätzt wurden. Ich war in der Grundschule eine gute Schülerin, lediglich Mathe gehörte nie zu meinen Stärken. Und dennoch kenne ich das flaue Gefühl, dass der Große heute hat. Was, wenn da was anderes steht als erwartet? Wie reagieren Mama und Papa?
Meine Eltern haben Zeugnisse immer sehr gelassen gesehen. Auch der blaue Brief in der neunten Klasse wurde ein wenig verwundert, aber nicht schimpfend in Empfang genommen. Die Prämisse war immer: Du lernst für dich, du musst für dich was draus machen. Und: Kannst/verstehst du es nicht oder hast du keine Lust, ist es dir zu blöd?
Und so saßen der Große und ich heute morgen noch eine Viertelstunde zusammen auf der Treppe. Ich habe ihm erklärt, dass so ein Zeugnis einem eigentlich nur helfen soll, zu sehen, was man gut kann und was man vielleicht noch üben sollte. Und dass auf keinen Fall jemand mit ihm böse oder gar sauer auf ihn wäre, wenn er etwas noch nicht so gut kann. Dass wir stolz sind auf das, was er alles schon kann. Und dass wir auch oft Fehler gemacht haben, heute noch machen. Besonders gut gefiel ihm natürlich, dass mir das Rechnen „bis 20“ damals schwer fiel.
Zu sehen, wie die Kinder sich mit den gleichen Fragestellungen und Eigenschaften das Leben schwer machen, quasi in einen Spiegel zurückzuschauen, ohne etwas ändern, es ihnen abnehmen zu können, es sie selber erfahren zu lassen, sie die gleichen Fehler machen zu lassen – das ist für mich, glaube ich, mit das Schwerste an diesem Erziehungsdings. Und manchmal hilft es, so ein altes Papier wieder hervorzukramen. Dann weiß man wieder, wie sich die Freude, aber vor allem auch das flaue Grummeln im Magen anfühlte.