Melancholie

Nur noch wenige Wochen, dann sind Ferien. Ferien, das heißt frei haben, keine Verpflichtungen, verreisen, Füße in die Nordsee tauchen, in den Tag hinein spielen, lesen, sich auch mal langweilen. Durchatmen, bevor etwas Neues startet. „Nach den Ferien bin ich ein Vorschulkind“, verkündest du, der Kleine, mir stolz. „Ja, und dann wirst du im Herbst schon 6 Jahre alt“, füge ich mit einem Seufzen hinzu. Der Kleine. Vorschule. Schule. 6 Jahre.

Du hast daraufhin die Monate an deinen Fingern abgezählt. Nur zwei Monate nach Ferienende ist dein Geburtstag. Und voller Vorfreude hast du begonnen, deinen ersten Wunschzettel zu schreiben.

Bisher hast du sie gemalt oder geklebt. Du wirst groß, mein Kleiner. Das ist toll zu sehen. Und dennoch ist es da, dieses Gefühl von „jetzt schon?“, ein Hauch von Melancholie.

Es wird dir gehen wie mir, das ist das Los der Jüngsten. Während ich leise denke, aber du bist doch mein Kleiner, wirst du die Welt schnell erobern wollen, immer versuchen, mit dem großen Bruder Schritt zu halten, dir alles von ihm abschauen. Das ist eben so, wir Jüngsten wollen nicht hinten anstehen, entwickeln Ehrgeiz, um eben auch an das Regal zu kommen, auf dem die Großen spannende Sachen sichern, um eben auch schnell laufen zu können, um nicht allein im Sandkasten sitzen bleiben zu müssen. Um eben auch bis in die Baumspitze klettern zu können und den tollen Ausblick zu haben, um eben auch lesen und schreiben zu können und so geheime Botschaften zu versenden.

Ich hingegen hätte dich schon als Baby gern noch ein bisschen länger ‚klein‘ gehabt. Noch einmal genießen, alles ganz genau aufnehmen, für mich festhalten. Es war irgendwie klar, du wirst immer der Kleine in diesem Hause sein.

Dabei vermisse ich sie eigentlich nicht, die Baby-Zeit. Das Windelwechseln, Stillen, Tragen. Es war wunderschön und manchmal sehr anstrengend. Aber das haben wir hinter uns, das ist gut so. Deine neue Selbstständigkeit finde ich toll. Dieses allein machen – und es auch können – bedeutet auch wieder neue, schöne Freiräume für uns Eltern. Es ist so spannend zu sehen, wie du dir Sachen erschließt, wie du plötzlich redest und argumentierst. „Er verlässt jetzt die magische Phase, sucht für alles Erklärungen, lässt sich nichts mehr vormachen“, so beschreibt es deine Erzieherin. Es ist klar, du bist kein Kleinkind mehr.

Vielleicht ist es weniger das Vermissen des Vergangenen, als das Wissen, dass die Entwicklung weiter so schnell vorangehen wird. Das wird einem in einzelnen Momenten, zum Beispiel wenn man den Wunschzettel für den 6. Geburtstag liest, klar.

Von mehreren Seiten wurden wir gefragt, ob du nicht vorzeitig eingeschult werden würdest. Du seist schließlich so aufgeweckt, liest jetzt sogar schon, rechnest. Und während dein Vater immer ganz klar wusste, nein, du brauchst noch Zeit zum Spielen, habe ich mich immer gefragt, ob du das eine Jahr noch brauchst oder dich vielleicht doch langweilen wirst (oder ich dich kleiner mache). Um dann festzustellen: ich kann mich auf mein (und deines Vaters) Bauchgefühl verlassen, und darauf, dass du ziemlich genau weißt, was du willst.

Natürlich kannst du schon vieles, aber du willst eben nicht nur der Große sein. Du brauchst noch mehr Spielzeit, weniger Struktur und Druck als es eben Schulkinder haben. Du freust dich jetzt darauf, ein Vorschulkind zu werden, mit allen Priviligien und Pflichten. Aber ohne gleich die großen Verpflichtungen, die Schule bedeuten.

Das wird eine schöne Zeit, eine Zeit, die du als der Große in der Kita genießen wirst. Einerseits Sachen dürfen, die die Kleinen noch nicht können. Andererseits sehen, dass du auch für sie mit da sein, ihnen helfen musst, weil du in diesem einen Jahr endlich mal der Große, das Vorbild, sein wirst.

Es werden einige letzte Male und auch Abschiede anstehen. Und dann wird es auch wieder durchkommen, dieses „jetzt schon“-Gefühl, dieser Hauch von Melancholie. Ich werde mich riesig mit dir über jeden weiteren Schritt freuen, auch wenn ich mir dabei vielleicht hin und wieder mal verstohlen eine Träne wegwische. Klar, bist du ein Großer, mein Kleiner. Das ist gut so, und ich begleite dich – wie deinen Bruder – mit großem Stolz dabei.

Aber vorher machen wir noch ganz alberne, magische, verrückte Ferien. Denn groß werden heißt ja gottseidank nicht, keinen Quatsch mehr zu machen. Zumindest in dieser Familie.

Fantastisch

Wir haben diese Woche den Zahn eines Säbelzahntigers gefunden. Also, weniger ich, vielmehr der jüngste Sohn. Ich hätte es ja einfach für ein dreieckiges Stück Holz gehalten, aber der Sohn hat gleich auf den ersten Blick erkannt, was es ist. Ein Säbelzahntigerzahn. Lag einfach so am Ende der Straße.

Naja, das ist so auch nicht richtig. Es hatte wahrscheinlich einen guten Grund, dass er eben dort lag. Denn nur eine Straßenkreuzung und wenige Schritte weiter ist eine Tierarztpraxis. Und höchstwahrscheinlich quälte ein heftiger Zahnschmerz den Säbelzahntiger und er war auf dem Weg zum Tierarzt. Als er also auf dem Weg dorthin vor lauter Schmerz in den Baum am Straßenrand beißen wollte, fiel der Zahn aus. So lag er dann vor unseren Füßen. Und der jüngste Sohn war von den zahlreichen Fußgängern der erste, der den besonderen Wert des Stückes erkannte.

image
Ein Schloss für mich, ein auftauendes Urzeitmonster am Strand, Frühstücksgesicht, neueste Mode und die Gummibärchenstraße.

So geht das hier ständig. Kein Tag, an dem die Jungs nicht irgendwas entdecken, erforschen, erfinden.

Mir war zum Beispiel nie bewusst, dass wir von allen Seiten beobachtet werden. Nein, ich meine jetzt keine Videoüberwachung. Aber wenn man sich genau umschaut, oder von Kindern darauf hingewiesen wird, dann sieht man sie überall. Die Gesichter, die einen anschauen. In dem Lautsprecher im Schaufenster, auf dem Joghurtdeckel, im Kakao.

Überhaupt gibt es so viel zu entdecken, wenn man die Augen geöffnet bekommt. Auf unserem Weg zur Kita müssen wir zum Beispiel immer über die Gummibärchenstraße. Ich kann gar nichts anderes mehr in den Steinen sehen. Wusstet ihr, wie viele Steine eine weiße Schnittstelle haben? Wenn man die alle aneinanderlegt, sieht man, die gehören irgendwie zusammen. Und wer denkt, eine leere Klopapierrolle sei nur ein Stück Pappe…dem fehlt einfach Fantasie. Oder Kinder mit eben dieser. Denn eine Klopapierrolle, dass kann eine Murmelbahn sein, ein Fernrohr. Oder gar ein Schloss für Mama.

Ich finde es großartig. Im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch. Es macht so viel Spaß, die Welt mit Fantasie zu entdecken, sie sich bunt zu reden, Abenteuer zu bestehen. Manchmal liegen wir abends im Bett, und statt etwas vorzulesen, erfinden wir Geschichten. Von kleinen Gnomen, wilden Tieren, mutigen Kindern. „Ich will gar nicht erwachsen werden“, sagt der Jüngste dann manchmal.

Musst du auch gar nicht, kleiner Fantast. Manchmal geht mir euer Groß werden eh viel zu schnell. Und dann irgendwann setzt diese Vernunft ein, die alles zu erklären versucht. Und einen im schlimmsten Fall blind macht für das Lustige, Schöne, Bunte.

Muss sie aber gar nicht. Ich wünsche mir für euch, meine beiden Fantasievögel, dass ihr immer ein bisschen kindisch, verspielt, verrückt bleibt. Und eure Fantasie nicht verliert Und dass ihr mir immer wieder helft, meine wach zu kitzeln, wenn sie einzuschlafen droht.

Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss raus in den Regen. Schauen, wie er die olympischen Ringe in die Pfützen tropft…