Von dieser Welt und unseren Kindern

Der Wecker zeigt 1.27 Uhr. Ich weiß nicht, wovon ich wach geworden bin, aber ich kann nicht mehr einschlafen. Ich lese mein Buch zu Ende. Dann kurz der Gedanke, ich war ja heute berufsbedingt kaum online, einfach mal kurz nachschauen, was bei Facebook und Twitter so los ist. Ich lese von hunderten Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind. Von einem Anschlag in Nizza.

Ich schaue auf meinen Großen, der im Moment viel Nähe und Sicherheit braucht, deshalb nachts gerne neben mir schläft. Ich höre den Kleinen rufen: „Mama, Hand halten.“ Er spürt sie nur, dann träumt er schon wieder tief und fest.

Da ist er wieder der Gedanke, den ich in den vergangenen Monaten oft bei anderen gelesen habe, den ich aber auch kenne: In was für eine Welt setzen wir eigentlich unsere Kinder? Oder aus dem Blickwinkel Jüngerer sogar: Kann man heute noch einfach so Kinder in diese Welt setzen?

Als Teenie stellte ich mir diese Frage erstmals. Politik interessierte mich schon immer, war in meinem Elternhaus fester Bestandteil unserer Gespräche. Und Diskussionen. Es herrschte der Kalte Krieg, es ging immer um eine atomare Bedrohung. Umwelt war ein weiteres Thema. Als ich Kind war, galt der Rhein als tot. Die Bilder von toten Fischen, die ans Ufer geschwemmt wurden, habe ich noch vor Augen. Der Regen, der vom Himmel fiel, war sauer, der Wald starb. Kinder in diese Welt setzen?

Meine älteren Geschwister erlebten als Teenies eine ganz andere Phase. Die Nachrichten berichteten über Entführungen, Anschläge, die RAF. An den weiterführenden Schulen gab es große Drogenprobleme. Kinder in diese Welt setzen?

Und dann frage ich mich, ob meine Großmutter sich diese Frage gestellt hat. Sie, die im eigenen Land nicht mehr gern gesehen war, weil sie sich in einen jungen Mann verliebt hatte, der auf der Burg, in der sie aufwuchs, einquartiert wurde. Die Belgierin und der Deutsche, Erster Weltkrieg. Sie entschied sich für die Liebe, auch wenn sie in Deutschland die Fremde, die Belgierin blieb. Sie entschied sich für Kinder, denen sie Offenheit und Toleranz vermitteln wollte. Für Länder, Religionen, vor allem für Menschen.

Es brach ihr das Herz, erzählten meine Mutter und meine Tante immer wieder, als ihr Ältester in einen Krieg ziehen musste, den sie nicht wollte. Jeder seiner Briefe voller Angst und Heimweh bedrückte sie, die Nachricht von seinem Tod machte sie krank. Sie zählte die Tage, bis der zweite Sohn aus der Gefangenschaft zurückkehrte. „Sie hat ihn im Schlaf nach Hause gerufen“, erinnert sich meine Mutter noch heute. Sie ließ ihre Jüngste zur vermeintlichen Sicherheit per Landverschickung gen Osten reisen. Als der Brief des kinderlosen Paares kam, es ginge der Tochter bei ihnen gut, man wolle sie behalten,  reiste sie sofort los, schmuggelte ihr eigenes Kind ohne Papiere nach Hause.

Ich habe meine Oma nicht kennengelernt, denn sie hatte neben all dem nicht mehr die Kraft für sich zu kämpfen, starb als meine Mutter ein Teenie war.

Ihre Kinder sind immer ihr Ein und Alles gewesen. Sie hat sie in einer grausamen Zeit groß gezogen. Aber im festen Glauben und mit der Hoffnung, dass die Welt nur mit Kindern besser werden kann. 

Wir leben heute seit mehr als 70 Jahren in Frieden. Wir leben in einem Europa, von dem meine Großeltern nicht einmal träumen konnten. Wir haben ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen im Kühlschrank. Wir können reisen, lernen, lieben …

Nein, es ist natürlich nicht alles gut. Es gibt viele Baustellen, an denen dringend etwas getan werden muss. Wir müssen wachsam sein, das rechte Parolen und Hetze nicht weiter wachsen. Wir müssen für die Dinge, die uns wichtig sind, einstehen. Wir müssen aufpassen, dass uns Anschläge und Terror nicht ängstlich in die Ecke drängen, denn das sollen sie schließlich bewirken. Und das müssen wir unseren Kindern vermitteln. Sie stark machen, ihnen Werte vermitteln, ein Miteinander vorleben. Für ihre Zukunft. Und unsere Hoffnung.