Reclaim the Night

Sie schämen sich. Sie bekommen gesagt, es sei doch nicht so schlimm gewesen. Sie sind vielleicht in irgendeiner Form abhängig von dem Täter. Im nachhinein werden sie dann gefragt, ob sie nicht selbst ein bisschen Schuld daran gewesen seien – war der Blick vielleicht auffordernd, der Rock zu kurz, die Gestik mißverständlich? Dabei sind sie die Opfer.

In den vergangenen 20 Jahren in meinem Beruf habe ich so viele Erklärungsversuche gehört, gerade als Gerichtsreporterin so viele fadenscheinige Entschuldigungen von Männern mitbekommen. Trotzdem frage ich mich immer noch, wie kommen manche Männer dazu, einfach zu glauben, sie können eine Frau beleidigend anquatschen, antatschen, belästigen? Was ist an einem Stopp, Nein oder Hör auf mißverständlich?

Und dann sitze ich mal wieder in einem Interview. Zwei Frauen erzählen mir, wie sie Opfer von Gewalt wurden. Eine von ihnen schaut mich an und sagt: „Laut Statistik werden in Deutschland 40 Prozent aller Frauen über 16 Jahre Opfer von Gewalt. Nahezu 60 Prozent werden Opfer sexueller Belästigung. Mehr als jede 2. Frau. Fragen Sie doch mal in ihrem Freundinnenkreis herum. Oder waren Sie schon mal Opfer?“

Ja. Frau muss nicht lange suchen oder herumfragen, um Opfer beispielsweise sexueller Belästigung zu finden. Ich überlege nur kurz.

Meine Freundinnen waren 7, ich 9, als uns dieser Mann auf dem Spielplatz Panik einjagte, indem er uns gezielt ansprach und sich dann vor uns entblößte. Und lachte über unsere Angst.

Ich war 14 und auf dem Nachhauseweg von einer Freundin, als drei ältere Jungs mich einkesselten und meinten, mich anfassen zu können. Das „Lasst mich in Ruhe“ half nicht, wohl aber, dass ich einen von ihnen kannte, wusste, wie er hieß, wo er wohnte, zur Schule ging. Ihn habe ich fixiert und angesprochen. Er sorgte dafür, dass sie mich gehen ließen. Panische Angst hatte ich trotzdem.

Mit 18 machte ich ein Praktikum in einer Redaktion und die Kollegen dort gaben mir mit, ich solle, wenn ich zum Chef ins Büro ginge, immer vorher Bescheid sagen. Dann kämen nämlich regelmäßig Kollegen mit Fragen ins Büro. Als eben dieser Chef mir sagte, er habe gerade leider keinen 2. Stuhl im Büro, ich könne mich während des Redigierens ja auf seinen Schoß setzen, verstand ich, was sie meinten. Nach kurzer Replik hatten wir klargestellt, dass ich Texte nicht mehr von ihm, nur noch von KollegInnen redigieren ließ.

Eine Kollegin, damals schon Redakteurin, hat den anderen nichts gesagt. Auch nicht, als er auf ‚Nein‘ nicht mehr reagierte und tatsächlich übergriffig wurde. Sie schämte sich. Hatte Angst um ihre Stelle. Und selbst als eine andere Kollegin der Redaktion ihn dann anzeigte, er gehen musste, sprachen die beiden Frauen nicht mehr miteinander, weil die eine sich entblößt fühlte, da das Geschehen öffentlich gemachte wurde. Und sie das Gefühl hatte, sie würde als ‚der Makel‘ betrachtet.

Wenn ich nachdenke, fallen mir noch viele weitere Fälle ein. Von Freundinnen, Kolleginnen, Bekannten. „Ist ja nie Schlimmeres passiert“, hab ich schon mal gehört. Klar. Keine von uns wurde überfallen oder vergewaltigt. Aber wir alle wurden Opfer. Wurden betatscht, erniedrigt, verängstigt, kamen mehrfach in Situationen, in denen uns bekannte oder wildfremde Männer zeigen wollten, dass sie die Stärkeren sind – und wir nur das schwache, wehrlose Freiwild. Gewalt als ein Zeichen der Macht. Sexualisierte Gewalt als Zeichen größtmöglicher Erniedrigung, bei dem sich das Opfer möglichst noch schämt, weil es Opfer wurde.

Frauen sind kein Freiwild. Jedes Jahr seit 1977 gehen deutschlandweit tausende Frauen auf die Straße, fordern die Nacht zurück – ‚Reclaim the night‘.

Denn, wie las ich es die Tage so treffend: „Ich muss als Frau nicht beschützt werden. Mir reicht es völlig aus, nicht belästigt zu werden.“

Ich will nachts keine Angst haben müssen, wenn ich auf dem Heimweg Schritte hinter mir höre. Ich will in eine Bahn einsteigen können, ohne mir Gedanken machen zu müssen, ob genug andere Menschen mit mir im Abteil sitzen. Ich möchte nicht jeden aus Angst unter Generalverdacht stellen. Ich bin kein ängstlicher Mensch, ich sage, was ich denke. Und ich möchte so bleiben.

Dafür müssen wir Opfern zuhören. Sie ernst nehmen. Ihre Geschichten in den Mittelpunkt stellen. Ihnen die Scham nehmen. Zu oft sind nur die Täter im Fokus. Es ist doch so viel leichter, auf jemanden mit dem Finger zu zeigen. Leichter, als sich anzuhören, wie es dem Opfer ergangen ist und lange danach noch geht. Leichter als dem Opfer zu helfen, für dessen Rechte einzutreten, Grundlegendes zu ändern, ist es stattdessen kurzfristig zu agieren.

Sexismus und sexuelle Belästigung sind nicht neu, keine Erscheinung unserer Zeit. Sie sind Alltag. Und das schon seit ewigen Zeiten. Genau deshalb muss darüber gesprochen werden.

Wer Hilfe sucht: Die kostenlose, bundesweit geltende Hotline für Frauen, die Opfer jeglicher Art von Gewalt geworden sind, ist 08000 – 116 016.

Das wars – für 2015

Ein Jahr lang blogge ich mittlerweile wieder. Der Mann lacht immer noch, wenn er einen Text als erster zu sehen bekommt und ich frage, ob ich den veröffentlichen kann. Ob es überhaupt jemanden interessiert. Aber, das habe ich schon bei den ersten Texten gemerkt, das Schreiben tut vor allem mir gut. Es ist meine Art, Sachen die ich (besonders gern nachts) mit mir rumschleppe, los zu lassen.

Und dann war da noch euer Zuspruch, gerade auf Texte wie ‚Opa lässt Pollen schneien‘, ‚Fragt, so lange ihr fragen könnt‘, ‚Welcome‘ oder auch auf so bierernste Themen rund um den Fußball wie in ‚Menage à trois oder Gratulation‘. Danke dafür.

Und: Ich mach das jetzt einfach weiter so. Oder wie der Mann immer so schön sagt, wenn ich zweifel: „Muss doch keiner lesen, machen sie doch freiwillig.“

In dem Sinne ziehe ich jetzt noch mal eine persönliche Bilanz, wechsel die Interviewseite und beantworte das weitverbreitete Jahresrückblicks-Frage-Antwort-Spiel.

2015

1. Haare länger oder kürzer?
Länger. Bei meiner Friseurin haben sie so erbarmungsloses Licht, dass ich dann eher Farbe als Schere ans Haar lasse.

2. Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Immer noch Brillen- und Kontaktlinsenfrei. Daher medizinisch: keine Ahnung. Menschlich übe ich mich im kurzsichtig sein. Also weniger Grübeln über das was-wäre-wenn auf lange Sicht, sondern leben jetzt.

3. Mehr ausgegeben oder weniger?
Mehr. Die plötzlich notwendige Küche.

4. Der hirnrissigste Plan?
Mal eben zwischendurch umziehen. Aber auch der beste in diesem Jahr.

5. Gefährlichste Unternehmung?
Ein paar Jungs zu einem Kindergeburtstag gebracht. Sich dabei mit einem Rosenstrauch, der neben dem Auto parkte, angelegt. Ging ins offene Auge. Wortwörtlich. Aber Glück gehabt.

6. Das berührendste Buch?
Suna von Pia Ziefle.

7. Der ergreifendste Film?
Star Wars. Einerseits gefühlt wie wieder 12, andererseits begeistert von gelungener Fortführung.

8. Liebstes Musikstück?

9. Schönstes Konzert?
Kein Konzert. Aber zum ersten Mal Stunksitzung (nach 18 Jahren verpasste Anläufe).

10. 2015 zum ersten Mal gemacht?
Menschen aus dem Internet in real getroffen, ganz viele auf einmal, beim #tkschland. Und in München gewesen und noch mehr Leute aus dem Internet kennengelernt. Toll.

11. 2015 nach langer Zeit mal wieder getan?
Umgezogen, neuen (Zweit-)Job angenommen.

12. 3 Dinge, auf die ich hätte verzichten können?
Streit jeglicher Art, dumme Menschen, Gewalt nah und fern.

13. Wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Loslassen.

14. Schönste Geschenk, dass ich jemandem gemacht habe?
Zeit.

15. Schönste Geschenk, dass mir jemand gemacht hat?
Monsterknuddler.
Ein Wochenende allein mit meinem Mann.

16. Schönste Satz, den mir jemand gesagt hat?
„Am Ende des Regenbogens ist ein Schatz. Das bist du.“
und
„Wir schaffen das zusammen.“

17. Schönste Satz, den ich jemandem gesagt habe?
„Wenn du sagst, wir schaffen das, dann glaube ich das.“

18. 2015 in einem Wort?
Ver-rückt.

So, und jetzt wird nach vorne geguckt. Willkommen 2016. 

Kommt gut rein.  Und macht das Beste aus dem neuen Jahr.

Frohes Neues Euch allen!