Kinder dieser Erde

15 Minuten. So lange etwa dauert die Fahrt vom Baumarkt zur Kaserne. 15 Minuten, um als Siebenjähriger verstehen zu wollen, was da gerade in der Welt passiert. 15 Minuten, um als Mutter Antworten zu finden, was da gerade in der Welt passiert.

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Vorgeschichte: Die Flüchtlingsthematik treibt mich seit Monaten um. Dank meines Berufs habe ich verschiedenste Wege kennengelernt, wie geholfen wird. Wie jeder helfen kann. Ich habe mich über Save me informiert, kalkuliere gerade, wie viel Zeit ich für regelmäßige Hilfe einbringen kann, was ich kann, womit ich Menschen helfen könnte. Und dann verfolge ich Freitagabend über Twitter die ersten Berichte, was in Heidenau los ist. Berichtet wird sonst nirgendwo. Ich erinnere mich an Lichtenhagen, ich war damals 19 und habe es fassungslos vor dem Fernseher verfolgt. Ich denke an Solingen, nur einen Katzensprung vom Ort, in dem ich aufwuchs, entfernt. Und ich dachte wirklich, noch einmal würde so etwas nicht passieren. Und ich habe Angst. Dann lese ich Samstagmorgen die Nachricht von @medididi vom DRK in Bonn. Ob nicht jemand Sand für die Kinder in der Ermekeilkaserne spenden kann. Nichts Großes. Aber Hilfe. Nicht warten müssen, bis der Patenantrag bearbeitet ist, etwas tun. Jetzt. Der Mann und ich werfen den durchgeplanten Tagesablauf um, ich fahre zum Baumarkt.

Nein, wir fahren. Der Große hat unsere Gespräche (natürlich) mitbekommen. In unserer Tageszeitung liest er die Schlagzeile: „Flüchtlingskrise: Chaos an Mazedoniens Grenze“. Darunter das Foto, wie die Polizei dort Flüchtlinge zurückhält. Dazwischen zwei weinende Kinder. Er will mit zur Kaserne, trägt die Tüte mit dem schnell zusammen gesuchten Sandspielzeug. Er hat Fragen. Viele Fragen. 15 Minuten Autofahrt.

„Mit dem Krankenwagen habe ich immer sehr gerne gespielt. Und mit dem Clownförmchen konnte man immer lustige Figuren im Sand machen.“

Das stimmt. Aber wann habt ihr das letzte Mal damit gespielt? Und für die kleine Schaufel sind eure Hände schon viel zu groß.

„Sind da so kleine Kinder, zu denen die Schaufel passt?“

Es flüchten ganz viele Menschen. Erwachsene, Kinder, Familien, auch mit kleinen Babys oder Kindern, die auf der Flucht geboren werden.

„Die Kinder und Menschen in der Zeitung hatten gar keine Taschen dabei. Haben sie nichts mitgenommen?“

Dafür ist oft keine Zeit, eine Flucht muss schnell gehen. Sie können nichts mitnehmen, flüchten mit Booten, die schon zu klein sind für all die Menschen.

„Manche müssen auch schwimmen. Und ertrinken, oder?“

Ja, es ertrinken dabei auch Menschen.

„Warum flüchten sie, wenn der Weg so gefährlich ist?“

Weil es in ihrer Heimat noch gefährlicher ist.

„Ist dort Krieg, so einer von dem Opa erzählt hat, wo man in den Bunker muss?“

Ja, in einigen Ländern ist Krieg. In anderen herrscht Hungersnot. In manchen Ländern werden Menschen verfolgt, weil sie sagen, was sie denken. Weil ihre Kinder lernen wollen.

„Wie das Mädchen auf deinem Buch*?
Was ist denn daran schlimm, zu lernen. Das ist doch gut, wenn ich Sachen weiß.“

Ja, es ist gut. Du verstehst, wie Dinge funktionieren. Du glaubst nicht alles, was man dir sagt. Wenn ich sage 12+7 ist 10…

„Quatsch, das ist 19.“

Eben. Ich kann dir da nichts vormachen oder sagen, mein Ergebnis ist richtig. Menschen, die selber denken, machen nicht nur das, was andere sagen. Sie fragen auch, ob es richtig ist, was der andere von ihnen will. Und wenn jemand über andere Menschen herrschen will, dann passt ihm das nicht, deswegen will er es verhindern.

„Ich habe gehört, dass in einem Land jemand erschossen wurde, weil er schwarz ist.“

Ja, es gibt auch Menschen, die andere nicht mögen oder verfolgen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion. Oft wissen sie gar nichts über sie, haben einfach Angst vor dem, was sie nicht kennen.

„Hab ich auch manchmal. Aber bei Menschen kann ich dann ja einfach mit ihnen reden. Und sie kennenlernen. Auch mit den Händen, wie in Holland.“

Ja, man muss einfach aufeinander zugehen.

„Mama, wenn ich flüchten müsste, ich hätte so Angst.“

Ich auch mein Schatz, unglaubliche Angst.

„Warum fliegen sie nicht einfach hierher?“

Das dürfen sie nicht. Sie haben dort gar keine Möglichkeit, sich ein Ticket zu kaufen und einfach ins Flugzeug zu steigen.

„Mama, hier ist auch nicht alles sicher. Es gibt ja auch Einbrüche.“

Ja, aber das ist schon was ganz anderes. Hier wird nicht täglich unser Leben bedroht. Wir haben Arbeit, eine Wohnung, du kannst zur Schule gehen, draußen spielen, dich mit Freunden treffen. Und es gibt Hilfe, Polizei, die aufpasst und dafür da ist, zu helfen.

Wir sind vor der Kaserne angekommen.

„Es sieht ein bisschen unheimlich aus. Warum kann man nicht einfach rein, warum ist ein Gittertor vor der Tür? Muss man sie hier auch beschützen?“

Es war ja mal eine Kaserne, in der Soldaten lebten. Da durfte nicht jeder einfach rein. Und jetzt leben hier so viele Menschen, da muss man schauen, wer hier hereinkommt. Und es kann natürlich auch ein Schutz für sie sein.

„Ist hier genug Platz für alle?“

Die Kaserne stand leer, da ist schon viel Platz. Aber sie wohnen natürlich alle eng beieinander. Eine Familie in einem Zimmer, zum Beispiel.

„Eine ganze Familie in einem einzigen Zimmer? Wie groß sind die denn?“

Vielleicht so groß wie dein Zimmer, vielleicht ein bisschen größer, genau weiß ich es nicht.

Wir laden die Sandsäcke aus, geben das Spielzeug und Fahrradhelme ab, fragen, was noch gebraucht wird. Dann fahren wir wieder.

„Mama, wir haben schon sehr Glück, dass hier kein Krieg ist.“

Ja, sehr großes Glück.

„In Religion haben wir über Menschen auf der ganzen Welt gesprochen. Das alle anders aussehen, eine andere Religion haben, aber das das egal ist. Jeder sollte sich vorstellen, er sei ein anderes Kind. Ich war Kiko aus Afrika, der gerne Tieren hilft. Und gesungen haben wir auch. Ein schönes Lied.“

Und dann fängt mein Großer im Auto an zu singen:

„Wir sind alle Kinder dieser Erde.“

Ja, genau das.

Save me ist eine Kampagne unterstützt von proasyl. Auf deren Homepage Save me kann man die Orte finden, in denen es engagierte Gruppen gibt. In jeder Stadt gibt es zudem Übersichten zu Flüchtlingsinitiativen und Hilfsstellen. Außerdem sind -wie in unserem Fall in Bonn- das DRK, aber auch Caritas und Diakonie Anlaufstellen. Einfach fragen, was gebraucht wird. Unter #bloggerfuerfluechtlinge findet man im Netz die verschiedensten Möglichkeiten, zu helfen oder zu spenden.

Danken möchte ich an dieser Stelle einmal allen Helfern, für die tolle Arbeit, die sie leisten – hier und heute als ein Beispiel für sie alle – den DRKlern in Bonn!

*Das Buch auf meinem Nachttisch ist ‚Ich bin Malala‘.

Welcome

Sie war etwa 10, 11 oder 12 Jahre alt. Die Bombenangriffe auf die Gegend, in der sie lebte, nahmen zu. Ständig musste sie die Schulen wechseln, immer wieder wurden diese geschlossen. Zu gefährlich, um zu unterrichten. Ihr Vater hatte Angst um sie und ihre Geschwister. Und schickte seine Jüngste mit der sechs Jahre älteren Schwester allein auf die Reise. Vom Raum Jülich zu Freunden in Richtung Düsseldorf. Tagelang waren die beiden Mädchen unterwegs, wurden immer mal wieder von irgendwem mitgenommen. Mussten in Straßengräben Schutz suchen.

Als meine Mutter mir das erste Mal von diesen Erinnerungen erzählte, war ich in etwa so alt wie sie damals. Und fand es unvorstellbar. Ich kenne die Strecke von klein an. Mit dem Auto braucht man nicht mal eine Stunde. Aber zu Fuß? Als Kind? Mit nur einer ungefähren Vorstellung, wo das Ziel liegen soll? Bei fremden Menschen um Hilfe und Unterstützung bittend?

Es ist etwas mehr als 70 Jahre her, dass mein Opa seine beiden Töchter los schickte. In Richtung Sicherheit. Weg von den Bomben. In Frieden leben zu können, ist ein besonderes Glück. Das haben meine Eltern mir immer wieder deutlich gemacht mit ihren Erinnerungen.

Jetzt bin ich 30 Jahre älter, sitze in einem Interview, und höre Geschichten von Kindern, die flüchten müssen. Deren Eltern ihr ganzes Geld zusammenrafften, um Schlepper dafür zu bezahlen, dass sie ihre Kinder in Sicherheit bringen. Von einem Bruder, der auf dem überladenen Schiff zusehen muss, wie diese Schlepper wahllos nach Menschen greifen und sie über Bord werfen, um „Ballast“ los zu werden. Der zusehen muss, wie sie seine kleine Schwester packen und über Bord werfen.

Ich erfahre von Kindern, die ansehen mussten, wie ihre Lehrer umgebracht, ihre Schulen abgebrannt wurden. Von Jungen und Mädchen, die hier in einem Schwebezustand leben, allerhöchstens geduldet sind, jederzeit mit einer Rücksendung rechnend. Die nicht weit von hier im Kosovo in Höhlen hausten, nicht wussten, wovon sie leben sollten. Von Roma, die dort die Schule nicht besuchen durften, weil sie Roma sind.

Immer mehr Flüchtlinge sind „UmF“s. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von ihren Eltern losgeschickt, nicht um in ihrem eigenen Land, dessen Sprache sie verstehen, Schutz zu suchen. Sondern tausende Kilometer entfernt. Fern von ihrer Heimat, von ihren Eltern. In einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen, dessen Kultur, Essen, Mentalität ihnen fremd ist. Auf sich gestellt, auf Hilfe angewiesen. Bei Null beginnend. Schon für die Erwachsenen, die hier ankommen, finde ich das eine unglaubliche, allein nicht zu bewältigende Aufgabe. Erst recht für Kinder.

Und dann lese ich von brennenden Flüchtlingsheimen. Von Menschen, die rechte Parolen schreien, öffentlich schlimmste Taten androhen. Wieder. Ich höre auch Sätze wie „Ja, die Kriegsverfolgten, okay. Aber im Kosovo ist doch kein Krieg“. Das Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“.

Ich mag mir nicht anmaßen, die Gründe, eine Heimat zu verlassen, alles aufzugeben, zu bewerten. Ich hasse diese Unterteilung in ‚gute‘, berechtigte Fluchtgründe und ’schlechte‘, also ‚wirtschaftliche‘.

Ich weiß nur: Das Wichtigste für mich ist, dass meine Kinder glücklich sind. Ich möchte, dass sie in Frieden und Freiheit aufwachsen können. Sie sollen die Möglichkeiten haben, zu lernen und sich zu entwickeln. Ich möchte nicht, dass sie jemals Hunger leiden müssen. Wegen Herkunft, Religion, Geschlecht oder Sexualität ausgegrenzt oder verfolgt werden. Oder keine medizinische Versorgung erhalten können.

@arstedo hat es in seinem Beitrag „Wenn ich Grieche wär‘ „ kürzlich getroffen mit dem Satz: „Ich profitiere davon, in einem reichen Land in ein gut situiertes Elternhaus hinein geboren worden zu sein.“ Genau das. Wir haben Glück, hier zu leben, Privilegien wie Bildung, Versorgung zu haben.

Ich würde alles tun, damit es meinen Kindern gut geht. Wie könnte ich das einem anderen Menschen absprechen?

Und deswegen muss man den rassistischen Parolen entgegen treten. Für Menschen, die Schutz suchen. Aber auch für uns und unsere Kinder. Und ein friedliches Miteinander.

Deshalb.
Refugees welcome