Sie war etwa 10, 11 oder 12 Jahre alt. Die Bombenangriffe auf die Gegend, in der sie lebte, nahmen zu. Ständig musste sie die Schulen wechseln, immer wieder wurden diese geschlossen. Zu gefährlich, um zu unterrichten. Ihr Vater hatte Angst um sie und ihre Geschwister. Und schickte seine Jüngste mit der sechs Jahre älteren Schwester allein auf die Reise. Vom Raum Jülich zu Freunden in Richtung Düsseldorf. Tagelang waren die beiden Mädchen unterwegs, wurden immer mal wieder von irgendwem mitgenommen. Mussten in Straßengräben Schutz suchen.
Als meine Mutter mir das erste Mal von diesen Erinnerungen erzählte, war ich in etwa so alt wie sie damals. Und fand es unvorstellbar. Ich kenne die Strecke von klein an. Mit dem Auto braucht man nicht mal eine Stunde. Aber zu Fuß? Als Kind? Mit nur einer ungefähren Vorstellung, wo das Ziel liegen soll? Bei fremden Menschen um Hilfe und Unterstützung bittend?
Es ist etwas mehr als 70 Jahre her, dass mein Opa seine beiden Töchter los schickte. In Richtung Sicherheit. Weg von den Bomben. In Frieden leben zu können, ist ein besonderes Glück. Das haben meine Eltern mir immer wieder deutlich gemacht mit ihren Erinnerungen.
Jetzt bin ich 30 Jahre älter, sitze in einem Interview, und höre Geschichten von Kindern, die flüchten müssen. Deren Eltern ihr ganzes Geld zusammenrafften, um Schlepper dafür zu bezahlen, dass sie ihre Kinder in Sicherheit bringen. Von einem Bruder, der auf dem überladenen Schiff zusehen muss, wie diese Schlepper wahllos nach Menschen greifen und sie über Bord werfen, um „Ballast“ los zu werden. Der zusehen muss, wie sie seine kleine Schwester packen und über Bord werfen.
Ich erfahre von Kindern, die ansehen mussten, wie ihre Lehrer umgebracht, ihre Schulen abgebrannt wurden. Von Jungen und Mädchen, die hier in einem Schwebezustand leben, allerhöchstens geduldet sind, jederzeit mit einer Rücksendung rechnend. Die nicht weit von hier im Kosovo in Höhlen hausten, nicht wussten, wovon sie leben sollten. Von Roma, die dort die Schule nicht besuchen durften, weil sie Roma sind.
Immer mehr Flüchtlinge sind „UmF“s. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von ihren Eltern losgeschickt, nicht um in ihrem eigenen Land, dessen Sprache sie verstehen, Schutz zu suchen. Sondern tausende Kilometer entfernt. Fern von ihrer Heimat, von ihren Eltern. In einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen, dessen Kultur, Essen, Mentalität ihnen fremd ist. Auf sich gestellt, auf Hilfe angewiesen. Bei Null beginnend. Schon für die Erwachsenen, die hier ankommen, finde ich das eine unglaubliche, allein nicht zu bewältigende Aufgabe. Erst recht für Kinder.
Und dann lese ich von brennenden Flüchtlingsheimen. Von Menschen, die rechte Parolen schreien, öffentlich schlimmste Taten androhen. Wieder. Ich höre auch Sätze wie „Ja, die Kriegsverfolgten, okay. Aber im Kosovo ist doch kein Krieg“. Das Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“.
Ich mag mir nicht anmaßen, die Gründe, eine Heimat zu verlassen, alles aufzugeben, zu bewerten. Ich hasse diese Unterteilung in ‚gute‘, berechtigte Fluchtgründe und ’schlechte‘, also ‚wirtschaftliche‘.
Ich weiß nur: Das Wichtigste für mich ist, dass meine Kinder glücklich sind. Ich möchte, dass sie in Frieden und Freiheit aufwachsen können. Sie sollen die Möglichkeiten haben, zu lernen und sich zu entwickeln. Ich möchte nicht, dass sie jemals Hunger leiden müssen. Wegen Herkunft, Religion, Geschlecht oder Sexualität ausgegrenzt oder verfolgt werden. Oder keine medizinische Versorgung erhalten können.
@arstedo hat es in seinem Beitrag „Wenn ich Grieche wär‘ „ kürzlich getroffen mit dem Satz: „Ich profitiere davon, in einem reichen Land in ein gut situiertes Elternhaus hinein geboren worden zu sein.“ Genau das. Wir haben Glück, hier zu leben, Privilegien wie Bildung, Versorgung zu haben.
Ich würde alles tun, damit es meinen Kindern gut geht. Wie könnte ich das einem anderen Menschen absprechen?
Und deswegen muss man den rassistischen Parolen entgegen treten. Für Menschen, die Schutz suchen. Aber auch für uns und unsere Kinder. Und ein friedliches Miteinander.
Deshalb.
Refugees welcome