Vom bunten Land und der weiß-getünchten Parallelwelt

15 Jahre ist es in diesem Monat her. Vor 15 Jahren nahm ich meinen ersten Flug in die USA, auf dem Weg zu meinem Praktikum. Ich hatte Bilder im Kopf von dieser Stadt, von diesem Land, von diesem Kontinent. Viele wurden in den Monaten darauf übermalt, korrigiert, von schwarz-weiß in bunt gefärbt – oder umgekehrt.

Ich habe New York in alle Himmelsrichtungen erkundet. Zu einer Zeit, als in der Stadt eine frische, riesige Wunde klaffte. Einer Zeit, in der die Menschen dort zutiefst verletzt worden waren. In der nur wenig Touristen dorthin kamen, wo noch der Staub von 09/11 lag. Und ich bin mit offenen Armen, Freude und Neugier empfangen worden. „Es ist schön, dass du dich traust, dass du hier bist“, hat mir mal ein wildfremder Mann auf der Straße gesagt, als ich zwischen Häuserschluchten nach einer Adresse frug.

Ich habe Amerika nicht als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der absoluten Gleichberechtigung, des gelebten Multikulti erlebt. In der Stadt, die für mich als der Schmelztiegel galt, lernte ich schnell, dass es immer noch Hierarchien gab. Nach Hautfarbe, nach Herkunft, nach Nationalität. Ein friedliches Nebeneinander im besten Sinne. Ich erinnere mich an das Interview einer Kollegin mit einem Comedypaar, das sein Leben zum Programm gemacht hatte – ein Jude und eine Schwarze, die dafür kämpften, ein Paar sein zu können. Ich erinnere mich aber auch an ein Aufeinanderzugehen. Eine gemeinsame Feier einer Synagogengemeinde mit der domenikanischen Nachbarschaft, jahrzehnte hatten sie nur nebeneinander gelebt.  Man wollte an vielen Orten, dass aus dem Neben- ein Miteinander wird.

Mein Lieblingsstadtteil wurde schnell Brooklyn in all seiner Vielfalt. Williamsburg mit den Künstlern, die in alten Fabriken lebten, Studenten, Familien. Von roten Backsteinhäuschen in gefegter Straße in Brooklyn Heights über alte Brauereien in Dumbo vollgesprüht mit Graffiti hin zu kleinen Cafés mit selbstgebackenem Kuchen (zu bezahlbaren Preisen). Und ersten hippen Restaurants sowie Protestschildern davor, die vor der Kommerzialisierung der Viertel warnten.

Einer dieser Spaziergänge führte mich nach Coney Island, eigentlich ganz an den Rand davon. Ich ging mit einer meiner Mitbewohnerinnen am Meer entlang, bis wir vor einer Mauer standen. Wir gingen die Mauer entlang, weil wir uns nicht erklären konnten, was diese Eingrenzung des Meeres zu bedeuten hatte. Und landeten vor einem bewachten Tor. Mein erstes, unbedarftes Zusammenprallen mit einer „Gated Community“.

Wir erzählten den Wachmännern, dass wir aus Deutschland kämen („aber dann kennt ihr das mit einer Mauer doch“). Ich erzählte von meinem Praktikum in der Redaktion und wollte mehr wissen, von dem Leben hinter der Mauer. Dem freiwilligen.

Es war ein ruhiger Nachmittag an einem Wochentag und sie beschlossen, dass sie uns wohl ohne Ärger hinein lassen konnten. Und so fuhren meine Mitbewohnerin und ich in einem Streifenwagen durch die Straßen dieser ganz eigenen Welt. Hinter dem Tor war alles weiß. Die ordentlichen Einfamilienhäuser, die sauberen Straßen und die Bewohner. Was gerade in diesem Teil von Brooklyn sofort auffiel. Auf einem Basketballplatz warfen zwei Jungs Körbe, in einem Vorgarten wurden Blumen gegossen. Wenn sich das Tor öffnete, dann, damit ein großer Familienwagen vorfahren konnte.

Die Wachmänner haben unser Staunen belächelt. Doch bis heute ist diese Parallelwelt innerhalb einer Stadt wie New York das Skurrilste, Irrealste, was ich dort gesehen habe. Dieses sich Abgrenzen von anderen, diese gelebte Angst, inmitten gerade dieser Stadt – ich konnte es einfach nicht verstehen. Es war mir so fremd.

Dann lese ich heute neueste Nachrichten aus den USA. Starre fassunglos auf jüngste Bestimmungen, Kündigungen. Auf Mauern, die man um das Land bauen will.

Für mich war Amerika nicht das Land, in dem alle friedlich, vorurteilsfrei und gleichberechtigt miteinander lebten. Ich traf dort auf Armut und sehr konservative Regelungen. Aber ich habe es auch kennengelernt als das Land des friedlichen Nebeneinanders, das manchmal sogar zu einem Miteinander werden konnte. Ich habe so viele Menschen dort kennengelernt, die Grenzen überwinden wollten, die aufeinander zugingen, die im wahrsten Sinne weltoffen waren.

Das ist 15 Jahre her. Ich weiß, es gibt viele dort, die mit dem, was derzeit in ihrem Land geschieht, nicht einverstanden sind, auf die Straße gehen, ihre Stimme erheben.

Dennoch: Ich hätte es mir 2002 nicht vorstellen können. Aber Amerika 2017 macht mir Angst.

2017

Hallo, neues Jahr. Ich freue mich. Auf das, was du so bereit hältst für uns an Plänen und Überraschungen.

Ich freue mich auf…

▪ein Familienfest mit Gästen für den Großen, der seine Kommunion feiern wird (Und die kommen dann tatsächlich alle für mich? Ja, mein Schatz, nur für dich.)

▪die Einschulung des Kleinen, bis dahin werde ich meine Melancholie (sie werden so schnell groß) auch ganz bestimmt gegen ausschließlich Stolz eingetauscht haben

▪ein Konzert von Depeche Mode, dass ich mit meinem Mann besuchen möchte (äh, hallo Babysitter…)

▪einen Urlaub in einer Gegend, in der ich noch nie war, die der Ehemann als Kind oft bereiste, auf einem Bauernhof, auf dem es dann hoffentlich auch die dazu passende Uhr gibt (bisschen Klischee muss ja sein)

▪einen rheinischen Geburtstag. Selbst das Tischfeuerwerk an Silvester hat eine 44 ausgespuckt

▪den Frühling und die Wiederbelebung des Gartens und hoffentlich die Umsetzung des Plans, ein Hochbeet zu basteln

▪den Sommer, der hoffentlich auch Sonne beinhaltet. Auf Tage mit den Jungs im Freibad und auf Wanderwegen, mit Picknick am Rhein

▪den Herbst, Spaziergänge im Laub und das erste Mal Kastanien sammeln seit sechs Jahren für den Eigenbedarf und nicht für die Gummibärchenaktion der Kita. Die ersten Herbstferien mit zwei Schulkindern.

▪den Winter mit all seinen Festen und Lichtern 

▪ das Meer, das ich hoffentlich irgendwie auch 2017 sehen werde, wenn auch bisher uneingeplant

▪viele Überraschungen, die meine Kinder mir bereiten werden, in dem sie wachsen, entdecken, ausprobieren (und mich Geduld und Durchatmen lehren)

▪vielleicht ein Wochenende allein mit dem Ehemann, wenn ich auch keine Ahnung habe, wie wir das organisieren sollen

▪neue Ideen und Aufgaben, die sich im Berufsleben ergeben werden

▪Zeit zum Lesen, Freunde treffen

▪neue Sportarten (ich werde ernsthaft suchen, nur ob ich fündig werde…)

▪ein Glas voller schöner Erinnerungen, das wir dann an Silvester leeren können

Frohes neues Jahr!

Durchs Leben jonglieren

Es regnet. Dieser feine Nieselregen, der im Laufe eines kurzen Weges schon durch und durch geht. Es ist nicht richtig kalt, aber uselig. So sagt man hier im Rheinland. Ungemütlich. November eben. Und dann kommt der schwerste Teil meines Arbeitsweges. Die Fahrt mit der Bahn durch den Flughafen.

Sitzen bleiben. Nicht aussteigen. Nicht irgendein Last-Minute-Ticket kaufen, in den Flieger steigen, irgendwo aussteigen, was anderes sehen. Hallo Fernweh, da bist du ja wieder. 

Der November macht es mir gerade schwer. So viele Termine, zu viel Stress, schlecht gelaunte Menschen um mich herum. So viel zu tun. Und dann stolper ich wieder über die Kiste aus dem Keller, die ich noch aussortieren wollte. Eine Kiste voll Urlaubserinnerungen, von Reisen in verschiedenste Länder. Nach gut 15 Jahren fällt er mir wieder in die Hände, ich wusste gar nicht mehr, dass ich ihn noch besitze. Ein Brief vom Weißen Riesen.

Ja, so haben wir ihn liebevoll genannt, den blassen Hünen mit den schwarzen Locken und dem Bart, wie er so in Irland am Strand stand und aussah, als könnte ihn nichts umwerfen. Der Weiße Riese, der eigentlich Daniel hieß, aus der Schweiz kam, Ingenieur war und sich ein Jahr Auszeit genommen hatte, um zu reisen. Der später noch wunderbare Geschichten per Post (ja, handgeschriebene Briefe, so lange ist es her) schickte, die wir weiterschreiben und zurückschicken sollten. Der mir das ‚wichtigste‘ Schweizer Wort versuchte beizubringen: Chuchichäschtli.

Plötzlich tauchen so viele Erinnerungen auf einmal wieder auf, dass sich mir der Kopf dreht.

Ich erinnere mich an John, der aussah, wie eine Touristenbroschüre eben einen Iren abbilden würde: Rote Haare, Sommersprossen. Er bewahrte mich davor, im Nichts mit dem wunderbarsten Sternenhimmel von einem Auto überfahren zu werden, weil ich auf der falschen Straßenseite ging. Er konnte wunderbar jonglieren und gab mir bei der Abreise von Dingle noch mit: „Übe jonglieren. Mit Jonglieren kommst du immer durchs Leben.“

Ich höre das Lachen von Anne Marie. meiner Teenager-Brieffreundin, die ich quer durch Irland bei meiner Reise immer auch suchte und mit der ich den letzten Abend auf der Insel durchgefeiert habe.

Ich denke an Kyeong, die im Wohnheim in New York auf dem gleichen Flur wohnte wie ich. Die mich zu ihrer Familie nach Washington einlud. Und mir einen Hauch von Korea mitten in den USA nahe brachte. Die mir zum Frühstück gekochtes Rindfleisch servierte und meiner Leidenschaft für Friedhofsspaziergänge in Arlington nachkam.

Ich blättere in den Kalligraphien, die mir Lili geschenkt hat. Deren Besuch mich in Brooklyns-Stadtteil Jamaika führte und die mir bei einer Tasse Tee von ihrem Leben, von Hass, Glück, Flucht, Liebe, Verlust erzählte und die sich zm Abschied eine Heinrich-Heine-Postkarte aus Düsseldorf von mir wünschte.

Mit fällt Georgios ein, der auf Korfu ein kleines Restaurant ganz versteckt in den Bergen und dennoch direkt am Meer führte. Tagsüber ging er fischen, abends servierte er den besten Oktopus, den ich je gegessen habe. Und dabei erzählte er vom Meer. Und als es zu dunkel für den Rückweg durch den Wald wurde, schipperte er uns mit seinem Boot in unsere Bucht und erzählte noch mehr Geschichten vom Meer. Und seinem Boot.

Wenn ich an den ersten und einzigen großen Urlaub mit meinen Eltern in Italien denke, dann fällt mir direkt das britische Mädchen ein, mit der ich auf der Luftmatratze im Mittelmeer lag, wo wir uns gegenseitig unsere Sprachen beibrachten.

Mir fallen Lasse und Nilla in Schweden ein, in Israel war Gabriel unser ständiger Begleiter, der mir zeigte, wie man am besten eine Pomelo isst. Ich denke an Enzo, der nach Australien auswanderte und mir die Faszination hochgiftiger Spinnen (ja, die können schön sein!) zeigte und an Peter, dessen Vorfahren aus dem Pott kamen, und der so ein besonderes Auge (und die entsprechende Kamera) für die Landschaft dort hat. Mir fällt die Höllanderin ein, deren Namen ich nicht kenne, die mir an einem Silvesterabend mit den Worten „Geef me een knuffel“ die Luft nahm.
Reisen heißt, andere Länder zu entdecken. Neue Landschaften, andere Kulturen, fremde Speisen kennenzulernen. Für mich aber heißt es vor allem, Menschen zu treffen. Menschen verschiedenster Herkünfte, verschiedenster Lebensweisen, verschiedenster Lebensmodelle. Und ich glaube, das ist es, was ich vermisse, wenn das Fernweh hin und wieder auftaucht. 

Und sollte der Weiße Riese irgendwie an diesen Text kommen und ihn lesen: Ich hoffe Seppli verließ sein Häuschen und den dunklen Tannenwald und fand, wonach er suchte.

Und mit all diesen Menschen im Kopf vertreibe ich jetzt das Novembergrau. Es ist Advent. Zeit für Lichter und irgendwie bitte auch für ein bisschen Ruhe. Und für die Menschen, die mir heute am wichtigsten sind.

Die unwiederbringliche Leichtigkeit des Wäschestreckens

Aufgeregt schnattern sie alle um mich herum. Was sich wohl in, hinter, auf diesem merkwürdigen Schrank auf der Bühne befindet? Was es mit dem Wäscheständer auf sich hat? Herr und Frau Meier stehen am Theatereingang und begrüßen jeden Gast. Für einige im Zuschauerraum ist es bestimmt der erste Theaterbesuch ihres Lebens, und als das Licht langsam ausgeht, tritt ehrfürchtige Stille ein.

Ich freue mich auf ein schönes Stück, darauf zu sehen, wie mein Jüngster und seine Freundin das Geschehen rund um „Frau Meier, die Amsel“ wohl aufnehmen werden.

Und dann stehen Frau und Herr Meier einträchtig am Wäscheständer und es trifft mich unerwartet, ich bin plötzlich wieder 4 oder 5. Es zieht mir kurz das Herz zusammen, aber dann breitet sich wohlige Wärme aus. Da steht ein Ehepaar auf der Bühne, hängt gemeinsam die Wäsche ab und faltet sie. So, wie ich es seit Jahren nicht mehr gesehen habe. So, wie ich es in meiner Kindheit immer gesehen habe.
Vor dem Bügeln nimmt jeder eine Seite der Wäsche und zieht daran, voller Kraft. Nicht ruckartig, sachte, aber kraftvoll. Mit seinem ganzen Gewicht lehnt sich jeder zurück, in der Gewissheit, der andere tut es auch und streckt so Handtücher – oder wie bei uns früher Tischdecken.

Diese langen, weißen Tischdecken, die an Feiertagen auf die große Tafel kamen. Wenn gut und gerne 20 Personen Platz finden mussten. Und bevor diese langen, gerade frisch gewaschenen Tischdecken durch die Heißmangel gezogen wurden (ich habe dieses Gerät geliebt), rief meine Mutter meinen Vater. Zum Decken strecken. Sie standen sich gegenüber, und so wie tagsüber im Geschäft, war auch hier jeder Handgriff der beiden aufeinander abgestimmt. Einmal längs falten, ziehen. Kräftig, aber sachte. Wie oft habe ich daneben gestanden und geschaut, ob einer den anderen vielleicht fallen lässt, zu früh nachgibt. Wie oft hat einer von beiden nur einen Moment die Spannung ausgesetzt, um den anderen kurz einknicken zu lassen, aber sich dann wieder zurückgelehnt, um den anderen nie umfallen zu lassen. Wie oft haben wir drei dann da gestanden und uns kaputt gelacht. Und dann durfte ich auch ziehen, schauen, ob ich stärker bin als die beiden. Jedes Mal erleichtert, festzustellen, sie fangen mich immer auf. Dann ging man aufeinander zu, bis das gute, glatte Wäschestück zusammengefaltet werden konnte. Wie jetzt eben in dem Theaterstück.

Einen kurzen Moment war ich wieder 4. Und hatte eine Kloß im Hals, weil ich wusste, dass diese Zeit doch unwiederbringlich vorbei ist. Aber dann musste ich den Rest des Nachmittags lächeln.

Und wenn der Jüngste groß ist, dann hoffe ich, sitzt er irgendwann einmal in einem Theaterstück und zuckt kurz zusammen, weil ihn eine Szene, eine Mimik, ein Bühnenbild daran erinnert, wie er einmal aufgeregt auf dem Schoß seiner Mutter saß, sie umarmte und sie glücklich zusammen über die neu gefundene Leichtigkeit der Frau Meier lächelten.

Du

Die Hände voller Gepäck, die Kamera irgendwo, nur nicht griffbereit. Umso mehr hat es sich eingeprägt, dieses Bild von dir, das jetzt stellvertretend für den ganzen Urlaub in meinem Kopf ist. Ein Bild, dass so typisch für dich ist, das zu dir passt, wie kein anderes. 

Es ist dieser kurze Augenblick. Wir sind gerade angekommen am Hafen. Es riecht nach Meer und Watt. Der Wind weht Sand und Salz auf unsere Haut. Und während wir Erwachsenen das Gepäck ausladen und für die Fähre aufgeben, Tickets kaufen und den Wagen zum Parkplatz bringen, setzt du dich in den Sand. Ich sehe, wie dein Bruder begeistert das Piratenschiff erobert, während du dich einfach in den Sand legst. Du lässt ihn durch deine Hände rieseln, immer und immer wieder. Du riechst an ihm, konzentrierst dich ganz darauf, das Gefühl dieses Sandes aufzunehmen.

„Das ist Strand-Sand, Mama, nicht wie auf den Spielplätzen sonst. Ganz fein, er riecht nach Meer und Muscheln. Das ist Urlaub.“ Du bist ganz versunken in diesem Moment, strahlst so glücklich, dass ich kurz glaube, du hättest sogar Tränen im Auge. 

Da sitzt du, mein feinfühliger, sensibler Sohn. Und mir wird wieder einmal bewusst, wie schwer sie manchmal auf dir lastet, die Welt mit ihrem Alltag. Du nimmst alles so intensiv auf, kleinste Schwingungen von Stress und Druck nimmst du wahr. Du nimmst vieles so ernst, vieles macht dir Angst, du sorgst dich um uns alle.

Und da das ja nicht jeder gleich mitkriegen soll, hast du deine eigene Schutzrüstung. Du gibst gerne mal den Clown. Alberst rum, tobst wild und laut. So intensiv, wie du fühlst, so reagierst du dann auch schon mal nach außen. Ob nun ängstlich, liebevoll, wütend. Du bist es in diesem Moment ganz und gar.

Das macht es für die Menschen um dich herum manchmal schwierig. Du musst die Dinge zu fassen bekommen, um sie zu verstehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es hat mich einige Zeit und Nerven gekostet, das zu verstehen: Du musst Dinge, wenn es irgend geht, anfassen. Wenn dir das Geschehen um dich herum  zu viel wird, im positiven wie im negativen, dann drehst du auf, wirst noch ein bisschen wilder, manchmal überdreht. Oft hilft es, dich in den Arm zu nehmen oder auch, dir die Hand zu reichen. Nur, wenn ich selber gerade wütend oder überfordert bin, ist das nicht immer einfach. Ich brauche dann Zeit zum Atmen und muss gleichzeitig schauen, dass du diesen Moment nicht als Ablehnung verstehst.

Freunde sind für dich unheimlich wichtig. Hast du jemanden zu deinem Freund auserkoren, kann er sich deiner Treue sicher sein. Umso mehr schmerzt es dich, hintergangen oder ausgegrenzt zu werden. Und ich überlege schon jetzt manchmal, wie und ob ich irgendwann einmal deinen ersten großen Liebeskummer auffangen kann.

Du hast dir mich von Anfang an ausgesucht als deinen Haupt-Gegenpol. Als deinen Ruhepunkt, deinen Spiegel, deinen Rückzugsmensch. Du kommst zu mir, wenn du dich anlehnen willst und musst, Halt brauchst. Du schreist mir deine Wut über all die Ungerechtigkeiten des Alltags entgegen, du provozierst mich, weil du mir vertraust. Ich kann nicht immer so reagieren, wie du es brauchst, wie es richtig und bedacht wäre. Weil auch ich mal ungeduldig bin, mir manches zu viel, zu laut, zu wild wird. Aber ich versuche es, immer wieder neu. Ich sehe dich. Deine Angst, deine Nöte, deine Verwundbarkeit.

Du verlangst viel von dir. Auch hier würde ich dir gern etwas Last nehmen. Du möchtest nicht nur gut sein, sondern sehr gut. Deine Ansprüche an dich sind hoch und du zweifelst viel zu sehr an dir.

Du bist du. Und das ist schön. Du bist ein toller Bruder, Enkel, Neffe, Cousin, Freund. Vor allem aber bist du ein ganz toller Sohn.

Du bist wunderbar. Das solltest du wissen.

Und weil er so gut in die Reihe passt, ist der Brief nun auch Teil der  ‚Liebesbriefparade‘  des Blogs Verflixter Alltag. Weil wir uns doch viel öfter sagen sollten, was wir aneinander haben.

Auf ein frohes Neues

Einmal im Jahr werden viele Freunde und Bekannte um mich herum gleichzeitig melancholisch. An Silvester, kurz bevor man sich freudig ein gutes neues Jahr wünscht, wird zurückgeblickt. Und nach vorne geschaut. Wie war das vergangene Jahr? Was wird das neue Jahr bringen? Stehen Veränderungen an?

Als Kind habe ich das nie verstanden. Das Vergangene war ja nun eh vorbei, ein neues Jahr begann und Silvester war einer von vielen schönen, aufregenden Feiertagen. Und dann ging das Jahr weiter, wie es vorher war: Ferien vorbei, ab in die Schule. Gleiche Klasse, gleiche Lehrer, gleiche Freunde. Nur die neue Jahreszahl beim Datum musste man ein bisschen üben.

Seit der Große in der Schule ist, erlebe ich es wieder so. Die großen Schritte machen wir hier nicht zum Jahresende. Der aufregende, manchmal Bauchgrummel, manchmal Vorfreude hervorrufende Neubeginn des Jahres liegt bei uns im August.

So endet auch dieser Monat und ist zugleich für uns ein Startblock für ein neues Jahr. Wir schauen nochmal auf den Sommerurlaub zurück, basteln mit den mitgebrachten Muscheln, erinnern uns beim Anblick der Fotos an neu gewonnene Freunde und Nordseewellen, die über unsere Köpfe hinwegrollten.

Gleichzeitig blicken wir nach vorn und machen Pläne. Der Große wartet gespannt auf seinen neuen Stundenplan. „Habe ich im ersten Halbjahr schon Schwimmunterricht?“ Schließlich hat er extra in den Ferien sein Bronzeabzeichen gemacht. „Was ist eigentlich Kommunion?“ ist eine weitere, ausgiebig besprochene Frage. Denn die steht im nächsten Frühjahr auf dem Plan und „ein Fest nur für mich, mit der ganzen Familie?“, das freut ihn schon sehr. Dann geht die Fußballsaison wieder los, diesmal eine Altersklasse höher. Für die Mannschaft gelten jetzt andere Regeln, es wird mit Schiedsrichtern gespielt…irgendwie schon fast wie die Großen. Und dann ist Papa auch noch der neue Trainer. Also auch eine neue Zeit für den Vater, mit vielen Vater-Sohn-Momenten.

Der Kleine startet nicht minder aufgeregt. Er zählt noch die Wochen, dann bald die Tage. Denn in diesem Herbst wird er 6, eine magische Zahl für ihn. Mit 6 ist man ja quasi schon groß, ’ne? Zumindest steht dann im nächsten Jahr die Einschulung bevor, und das ist ja nun definitiv ein großer Einschnitt. Mit diesem August ist er ein Vorschulkind, ein Rang von höchster Bedeutung. Er bietet Privilegien, viele besondere Ausflüge, einmal die Woche Vorschule. „Und ich bin ein Vorbild. Wir müssen uns mit um die Kleinen kümmern, die noch nicht alles kennen oder wissen, was man hier alles spielen kann.“ Sehr wichtig. Schule anschauen, anmelden, Schulranzen aussuchen, Tüte basteln, Bücher neu entdecken, all das startet jetzt. Und Fußballspielen wie sein großer Bruder möchte er auch. Ooohhh…

So viele Meilensteine, die warten, da könnte man doch glatt mit einem Glas Sekt anstoßen, oder? Auf ein gutes, frohes neues Familienjahr oder so. Prost! 

Von dieser Welt und unseren Kindern

Der Wecker zeigt 1.27 Uhr. Ich weiß nicht, wovon ich wach geworden bin, aber ich kann nicht mehr einschlafen. Ich lese mein Buch zu Ende. Dann kurz der Gedanke, ich war ja heute berufsbedingt kaum online, einfach mal kurz nachschauen, was bei Facebook und Twitter so los ist. Ich lese von hunderten Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind. Von einem Anschlag in Nizza.

Ich schaue auf meinen Großen, der im Moment viel Nähe und Sicherheit braucht, deshalb nachts gerne neben mir schläft. Ich höre den Kleinen rufen: „Mama, Hand halten.“ Er spürt sie nur, dann träumt er schon wieder tief und fest.

Da ist er wieder der Gedanke, den ich in den vergangenen Monaten oft bei anderen gelesen habe, den ich aber auch kenne: In was für eine Welt setzen wir eigentlich unsere Kinder? Oder aus dem Blickwinkel Jüngerer sogar: Kann man heute noch einfach so Kinder in diese Welt setzen?

Als Teenie stellte ich mir diese Frage erstmals. Politik interessierte mich schon immer, war in meinem Elternhaus fester Bestandteil unserer Gespräche. Und Diskussionen. Es herrschte der Kalte Krieg, es ging immer um eine atomare Bedrohung. Umwelt war ein weiteres Thema. Als ich Kind war, galt der Rhein als tot. Die Bilder von toten Fischen, die ans Ufer geschwemmt wurden, habe ich noch vor Augen. Der Regen, der vom Himmel fiel, war sauer, der Wald starb. Kinder in diese Welt setzen?

Meine älteren Geschwister erlebten als Teenies eine ganz andere Phase. Die Nachrichten berichteten über Entführungen, Anschläge, die RAF. An den weiterführenden Schulen gab es große Drogenprobleme. Kinder in diese Welt setzen?

Und dann frage ich mich, ob meine Großmutter sich diese Frage gestellt hat. Sie, die im eigenen Land nicht mehr gern gesehen war, weil sie sich in einen jungen Mann verliebt hatte, der auf der Burg, in der sie aufwuchs, einquartiert wurde. Die Belgierin und der Deutsche, Erster Weltkrieg. Sie entschied sich für die Liebe, auch wenn sie in Deutschland die Fremde, die Belgierin blieb. Sie entschied sich für Kinder, denen sie Offenheit und Toleranz vermitteln wollte. Für Länder, Religionen, vor allem für Menschen.

Es brach ihr das Herz, erzählten meine Mutter und meine Tante immer wieder, als ihr Ältester in einen Krieg ziehen musste, den sie nicht wollte. Jeder seiner Briefe voller Angst und Heimweh bedrückte sie, die Nachricht von seinem Tod machte sie krank. Sie zählte die Tage, bis der zweite Sohn aus der Gefangenschaft zurückkehrte. „Sie hat ihn im Schlaf nach Hause gerufen“, erinnert sich meine Mutter noch heute. Sie ließ ihre Jüngste zur vermeintlichen Sicherheit per Landverschickung gen Osten reisen. Als der Brief des kinderlosen Paares kam, es ginge der Tochter bei ihnen gut, man wolle sie behalten,  reiste sie sofort los, schmuggelte ihr eigenes Kind ohne Papiere nach Hause.

Ich habe meine Oma nicht kennengelernt, denn sie hatte neben all dem nicht mehr die Kraft für sich zu kämpfen, starb als meine Mutter ein Teenie war.

Ihre Kinder sind immer ihr Ein und Alles gewesen. Sie hat sie in einer grausamen Zeit groß gezogen. Aber im festen Glauben und mit der Hoffnung, dass die Welt nur mit Kindern besser werden kann. 

Wir leben heute seit mehr als 70 Jahren in Frieden. Wir leben in einem Europa, von dem meine Großeltern nicht einmal träumen konnten. Wir haben ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen im Kühlschrank. Wir können reisen, lernen, lieben …

Nein, es ist natürlich nicht alles gut. Es gibt viele Baustellen, an denen dringend etwas getan werden muss. Wir müssen wachsam sein, das rechte Parolen und Hetze nicht weiter wachsen. Wir müssen für die Dinge, die uns wichtig sind, einstehen. Wir müssen aufpassen, dass uns Anschläge und Terror nicht ängstlich in die Ecke drängen, denn das sollen sie schließlich bewirken. Und das müssen wir unseren Kindern vermitteln. Sie stark machen, ihnen Werte vermitteln, ein Miteinander vorleben. Für ihre Zukunft. Und unsere Hoffnung.

Melancholie

Nur noch wenige Wochen, dann sind Ferien. Ferien, das heißt frei haben, keine Verpflichtungen, verreisen, Füße in die Nordsee tauchen, in den Tag hinein spielen, lesen, sich auch mal langweilen. Durchatmen, bevor etwas Neues startet. „Nach den Ferien bin ich ein Vorschulkind“, verkündest du, der Kleine, mir stolz. „Ja, und dann wirst du im Herbst schon 6 Jahre alt“, füge ich mit einem Seufzen hinzu. Der Kleine. Vorschule. Schule. 6 Jahre.

Du hast daraufhin die Monate an deinen Fingern abgezählt. Nur zwei Monate nach Ferienende ist dein Geburtstag. Und voller Vorfreude hast du begonnen, deinen ersten Wunschzettel zu schreiben.

Bisher hast du sie gemalt oder geklebt. Du wirst groß, mein Kleiner. Das ist toll zu sehen. Und dennoch ist es da, dieses Gefühl von „jetzt schon?“, ein Hauch von Melancholie.

Es wird dir gehen wie mir, das ist das Los der Jüngsten. Während ich leise denke, aber du bist doch mein Kleiner, wirst du die Welt schnell erobern wollen, immer versuchen, mit dem großen Bruder Schritt zu halten, dir alles von ihm abschauen. Das ist eben so, wir Jüngsten wollen nicht hinten anstehen, entwickeln Ehrgeiz, um eben auch an das Regal zu kommen, auf dem die Großen spannende Sachen sichern, um eben auch schnell laufen zu können, um nicht allein im Sandkasten sitzen bleiben zu müssen. Um eben auch bis in die Baumspitze klettern zu können und den tollen Ausblick zu haben, um eben auch lesen und schreiben zu können und so geheime Botschaften zu versenden.

Ich hingegen hätte dich schon als Baby gern noch ein bisschen länger ‚klein‘ gehabt. Noch einmal genießen, alles ganz genau aufnehmen, für mich festhalten. Es war irgendwie klar, du wirst immer der Kleine in diesem Hause sein.

Dabei vermisse ich sie eigentlich nicht, die Baby-Zeit. Das Windelwechseln, Stillen, Tragen. Es war wunderschön und manchmal sehr anstrengend. Aber das haben wir hinter uns, das ist gut so. Deine neue Selbstständigkeit finde ich toll. Dieses allein machen – und es auch können – bedeutet auch wieder neue, schöne Freiräume für uns Eltern. Es ist so spannend zu sehen, wie du dir Sachen erschließt, wie du plötzlich redest und argumentierst. „Er verlässt jetzt die magische Phase, sucht für alles Erklärungen, lässt sich nichts mehr vormachen“, so beschreibt es deine Erzieherin. Es ist klar, du bist kein Kleinkind mehr.

Vielleicht ist es weniger das Vermissen des Vergangenen, als das Wissen, dass die Entwicklung weiter so schnell vorangehen wird. Das wird einem in einzelnen Momenten, zum Beispiel wenn man den Wunschzettel für den 6. Geburtstag liest, klar.

Von mehreren Seiten wurden wir gefragt, ob du nicht vorzeitig eingeschult werden würdest. Du seist schließlich so aufgeweckt, liest jetzt sogar schon, rechnest. Und während dein Vater immer ganz klar wusste, nein, du brauchst noch Zeit zum Spielen, habe ich mich immer gefragt, ob du das eine Jahr noch brauchst oder dich vielleicht doch langweilen wirst (oder ich dich kleiner mache). Um dann festzustellen: ich kann mich auf mein (und deines Vaters) Bauchgefühl verlassen, und darauf, dass du ziemlich genau weißt, was du willst.

Natürlich kannst du schon vieles, aber du willst eben nicht nur der Große sein. Du brauchst noch mehr Spielzeit, weniger Struktur und Druck als es eben Schulkinder haben. Du freust dich jetzt darauf, ein Vorschulkind zu werden, mit allen Priviligien und Pflichten. Aber ohne gleich die großen Verpflichtungen, die Schule bedeuten.

Das wird eine schöne Zeit, eine Zeit, die du als der Große in der Kita genießen wirst. Einerseits Sachen dürfen, die die Kleinen noch nicht können. Andererseits sehen, dass du auch für sie mit da sein, ihnen helfen musst, weil du in diesem einen Jahr endlich mal der Große, das Vorbild, sein wirst.

Es werden einige letzte Male und auch Abschiede anstehen. Und dann wird es auch wieder durchkommen, dieses „jetzt schon“-Gefühl, dieser Hauch von Melancholie. Ich werde mich riesig mit dir über jeden weiteren Schritt freuen, auch wenn ich mir dabei vielleicht hin und wieder mal verstohlen eine Träne wegwische. Klar, bist du ein Großer, mein Kleiner. Das ist gut so, und ich begleite dich – wie deinen Bruder – mit großem Stolz dabei.

Aber vorher machen wir noch ganz alberne, magische, verrückte Ferien. Denn groß werden heißt ja gottseidank nicht, keinen Quatsch mehr zu machen. Zumindest in dieser Familie.

Fantastisch

Wir haben diese Woche den Zahn eines Säbelzahntigers gefunden. Also, weniger ich, vielmehr der jüngste Sohn. Ich hätte es ja einfach für ein dreieckiges Stück Holz gehalten, aber der Sohn hat gleich auf den ersten Blick erkannt, was es ist. Ein Säbelzahntigerzahn. Lag einfach so am Ende der Straße.

Naja, das ist so auch nicht richtig. Es hatte wahrscheinlich einen guten Grund, dass er eben dort lag. Denn nur eine Straßenkreuzung und wenige Schritte weiter ist eine Tierarztpraxis. Und höchstwahrscheinlich quälte ein heftiger Zahnschmerz den Säbelzahntiger und er war auf dem Weg zum Tierarzt. Als er also auf dem Weg dorthin vor lauter Schmerz in den Baum am Straßenrand beißen wollte, fiel der Zahn aus. So lag er dann vor unseren Füßen. Und der jüngste Sohn war von den zahlreichen Fußgängern der erste, der den besonderen Wert des Stückes erkannte.

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Ein Schloss für mich, ein auftauendes Urzeitmonster am Strand, Frühstücksgesicht, neueste Mode und die Gummibärchenstraße.

So geht das hier ständig. Kein Tag, an dem die Jungs nicht irgendwas entdecken, erforschen, erfinden.

Mir war zum Beispiel nie bewusst, dass wir von allen Seiten beobachtet werden. Nein, ich meine jetzt keine Videoüberwachung. Aber wenn man sich genau umschaut, oder von Kindern darauf hingewiesen wird, dann sieht man sie überall. Die Gesichter, die einen anschauen. In dem Lautsprecher im Schaufenster, auf dem Joghurtdeckel, im Kakao.

Überhaupt gibt es so viel zu entdecken, wenn man die Augen geöffnet bekommt. Auf unserem Weg zur Kita müssen wir zum Beispiel immer über die Gummibärchenstraße. Ich kann gar nichts anderes mehr in den Steinen sehen. Wusstet ihr, wie viele Steine eine weiße Schnittstelle haben? Wenn man die alle aneinanderlegt, sieht man, die gehören irgendwie zusammen. Und wer denkt, eine leere Klopapierrolle sei nur ein Stück Pappe…dem fehlt einfach Fantasie. Oder Kinder mit eben dieser. Denn eine Klopapierrolle, dass kann eine Murmelbahn sein, ein Fernrohr. Oder gar ein Schloss für Mama.

Ich finde es großartig. Im wahrsten Sinne des Wortes fantastisch. Es macht so viel Spaß, die Welt mit Fantasie zu entdecken, sie sich bunt zu reden, Abenteuer zu bestehen. Manchmal liegen wir abends im Bett, und statt etwas vorzulesen, erfinden wir Geschichten. Von kleinen Gnomen, wilden Tieren, mutigen Kindern. „Ich will gar nicht erwachsen werden“, sagt der Jüngste dann manchmal.

Musst du auch gar nicht, kleiner Fantast. Manchmal geht mir euer Groß werden eh viel zu schnell. Und dann irgendwann setzt diese Vernunft ein, die alles zu erklären versucht. Und einen im schlimmsten Fall blind macht für das Lustige, Schöne, Bunte.

Muss sie aber gar nicht. Ich wünsche mir für euch, meine beiden Fantasievögel, dass ihr immer ein bisschen kindisch, verspielt, verrückt bleibt. Und eure Fantasie nicht verliert Und dass ihr mir immer wieder helft, meine wach zu kitzeln, wenn sie einzuschlafen droht.

Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss raus in den Regen. Schauen, wie er die olympischen Ringe in die Pfützen tropft…

Mein Treppenwitz

Es gibt so Tage, da fällt einem jeder Schritt schwer. Aufstehen, obwohl es draußen doch so kalt ist. In die Bahn steigen, obwohl sie so voll ist, dass man vielen Menschen viel näher kommt als man möchte. Termine auf dem Kalender sehen, die einem Magengrummeln verursachen. Tage, an denen sich die Stufen zum Büro im 2. Stock ziehen, als sei es der 8.

Dann ist er verlockend, der Aufzug. Einfach einsteigen, nix machen müssen, gegebenenfalls einfach weiterfahren. Je nach Modell und Alter höchstens ein flaues Gefühl im Magen, dass er stecken bleiben könnte.

Ich gehe lieber zu Fuß. Bis zum dritten Stock, so meine Regel, immer zu Fuß. Danach darf bei Gelegenheit die Tagesform entscheiden.

An solchen Tagen, an denen Treppen so endlos wirken, erinnere ich mich immer an meine Zeit in New York.

Mein Lieblingsgebäude dort ist das Empire State Building, aus verschiedenen Gründen. Einer aber ist: Es war mein Orientierungspunkt. Ich wohnte in der gleichen Straße, morgens ging mein erster Blick aus dem Fenster immer zum Empire State. Stieg ich irgendwo in Manhattan aus der Metro, wusste ich dank des ESB immer, wo welche Himmelsrichtung ist.

Und dann fand dort noch dieser alljährliche Treppenlauf statt. Als ich dort war, 2002, zum 25. Mal. Eine Geschichte über die Läufer sollte ich schreiben. Ältester, jüngster, mit der weitesten Anreise… Und dann boten die Organisatoren mir im Rahmen der Recherche einen der Laufplätze an. Das Gebäude von einer Innenseite sehen, die für Besucher sonst geschlossen ist. Das wollte ich machen und nahm die Einladung (und Gelegenheit zu einer Reportage) sofort an.

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Mein Zimmer in Manhattan lag im achten Stock. Mir blieben nur zwei Wochen Vorbereitung, also lief ich von da an die acht Stockwerke – immer. Also erst schlich ich sie, dann wurde daraus ein kräftiges Gehen, am Ende lief ich sie.

Der Treppenlauf geht über 1576 Stufen, 320 Meter hoch und endet nicht ganz oben, sondern im 86. Stockwerk. Das würde ich nicht schaffen, da war ich realistisch genug. Aber zumindest die acht Stockwerke, die ich jetzt täglich trainierte, sollten es werden. Ich wollte wissen, wie sich so ein Lauf anfühlt.

Nunja, erstmal kribbelig im Bauch. Ich traf u.a. Chico Scimone, der 90-jährig die Teppen zum x-ten Male hoch huschte. Und Menschen, die das ganze Jahr darauf trainiert hatten, hier hoch zu laufen.

Startschuss. Die ersten Stockwerke gingen super. Dann endlich das achte Stockwerk und ich dachte, okay, das reicht. Hier breche ich ab, nehme den Aufzug, um oben die Gewinner zu interviewen.

Pustekuchen. Die Tür des Treppenhauses war verschlossen. „No Exit“, rief mir ein Mitläufer zu. Die Türen sind nur in jedem siebten Stockwerk offen, erklärte er noch weiter. Ich holte tief Luft…und rannte weiter. Okay, dann eben 14 Etagen, fordere ich meine Beine eben heraus, dachte ich.

Ich gebe zu, ich bin eitel. Zumindest in dem Maße, dass ich nicht japsend, mit rotem Kopf, vor laufender Kamera eines amerikanischen Fernsehteams aufgebe. Denn genau das stand in der Tür der 14. Etage. Interviewte vorbeigehende Läufer und feuerte an. „I’m fine“ bekam ich irgendwie raus, dazu ein verzerrtes Lächeln. Wissend, dass ich die nächste offene Tür erst in sieben Etagen erreichen würde. Ich nahm all meine Kraft zusammen und lief. Äh, ging. Vielleicht schlich ich auch. Und hin und wieder holte ich sehr tief Luft. Bis zu diesem Schild, dass mir ein echtes Lächeln entlockte.

21.
EXIT

Ich weiß nicht mehr, wie ich in den Aufzug kam. Aber ich erinnere mich daran, dort mit sehr wackeligen Beinen gestanden zu haben. Lächelnd. Triumphierend. Ich war gerade 21 Stockwerke gelaufen. Persönliche Bestleistung.

Stehe ich jetzt also morgens manchmal vor endlosen wirkenden Treppen, dann denke ich an Stock 8 und 14 und 21. Und sage mir: „Hey, das hier ist Alltag. 2 Stockwerke, das ist ein Klacks.“ Und dann geht es schon wieder für den Rest des Tages.