Geschwisterliebe

Er sitzt in seinem Zimmer und packt. Der Stein mit dem FC Bayern-Logo kommt in den Rucksack, was zum Lesen, der Lieblingspulli. Und das Foto, auf dem er mit seinem kleinen Bruder ist. Der Große möchte ausziehen.

Draußen regnet es. Mit dem Bruder hat er sich jetzt den halben Vormittag um Legosteine, die richtige CD, einfach alles gestritten. Und dann hab ich auch noch geschimpft. Richtig doll und laut. Jetzt reichts.

Nein, mit mir in Ruhe sprechen möchte er nicht, das er hat er schon vor dem Schimpfen durch lautes Türknallen demonstriert, daran hat sich nichts geändert. Die Mutter von Freund X schimpft nie, man darf dort im ganzen Haus mit harten Fußbällen spielen und elektronische Geräte seien immer an, bei ihnen möchte er jetzt wohnen.

Ich kenne die impulsive Seite des jungen Mannes mittlerweile genausogut wie er die Punkte, mit denen er mich innerhalb kürzester Zeit auf die Palme bringen kann. Ich weiß, er braucht jetzt die Ruhe des Taschepackens. Das Gesprächsangebot steht, wir atmen jetzt beide mal durch.

Was ich bisher nicht kannte, ist die Reaktion des kleinen Bruders. Alle Streitereien sind vergessen, er holt seinen Schlafanzug aus dem Schrank, den Kuschelbär aus dem Bett und sucht seinen Rucksack.

  

„Was machst du, Jüngster?“ „Ich ziehe mit ihm aus.“ Ich muss ganz schön schlucken, und die Tränen, die ich im Streit mit dem Großen runtergedrückt habe, kommen wieder hoch. „Ich lasse ihn nicht allein gehen, Mama. Aber ich gucke, dass wir hier in die Nähe ziehen, damit ich immer zu dir kann.“

Jetzt heule ich endgültig. Nicht wegen des impulsiven Auszugswunsches. Viel mehr, weil die beiden mir hier gerade zeigen, was ich mir immer gewünscht habe. Es war immer klar, wenn es klappen würde, dann wollen wir zwei Kinder. Der Mann, das Einzelkind, und ich, das Nesthäkchen aus kinderreicher Familie, wir wollten Geschwister-Kinder. Bruder oder Schwester, mit denen man spielen, auf Bäume klettern und im übertragenen Sinn Pferde stehlen kann. Die in Momenten da sind, wenn Eltern nicht die richtigen Ansprechpartner sind. Die eben zueinander stehen, füreinander da sind.

Wir wussten, es gibt keine Garantie, dass Geschwister so werden. Eifersucht ist immer wieder mal ein Thema. Und wir erleben täglich, dass kleine sowie große Brüder ‚total doof‘ sein können. Dass sie alles nachmachen, kaputt machen, einem das Spielzeug wegnehmen, schubsen, raufen, sich Schimpfworte an den Kopf schmeißen, dass sie irgendwas noch nicht richtig können, dass sie irgendwas einfach immer besser können. Kurzum: Brüder, ja Geschwister allgemein, können unheimlich nerven.

Aber wir erleben in unserem Alltag auch, dass der eine ungeduldig auf den anderen wartet, weil der noch bei einem Freund ist. Dass, wenn der eine sich beim Kinderarzt einen Ballon aussuchen darf, er fragt: Kann ich auch einen für meinen Bruder? Dass sie mit einer Engelsgeduld zusammen spielen können, der eine dem anderen immer die passenden Legosteine reicht. Wir sehen, wie der Kleine vom Großen das Alphabet lernt, wie der Große dem Kleinen vorliest. Wie der eine den anderen unterstützt, wenn sie nach ganz oben auf einen Baum wollen. Wir sehen, wie sie freudestrahlend zusammen die Riesenrutsche hinuntersausen und sich bei der Autofahrt über ihre Witze gemeinsam kaputt lachen.

Und dann stehen sie da und packen ihren Rucksack, um gemeinsam auszuziehen, obwohl es eben noch den Anschein hatte, dass sie sich an die Gurgel wollen. Sie stehen zueinander, wollen aufeinander aufpassen, gehören eben zusammen.

Der Kleine ist fertig mit Packen. „Geht’s los?“ fragt er den Großen. Der schaut kurz aus dem Fenster. Es regnet immer noch, der Freund ist verreist und außerdem müsste er sich dafür jetzt den Schlafanzug ausziehen. „Ich will eigentlich gar nicht von hier weg. Ich fand nur das Ausschimpfen doof“, sagt er. „Dann ist ja gut“, sagt der Kleine und packt in aller Seelenruhe wieder aus. „Können wir jetzt Kekse essen?“

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