Es war ein Sommertag, Ferien. Ungefähr vor 30 Jahren. Ich verbrachte einige Tage bei meiner Tante und meinem Onkel in Linnich, einem kleinen Ort, Großraum Aachen. Sie wohnten in der gleichen Straße, in der meine Mutter aufgewachsen ist. In den 30er und 40er Jahren. In der Zeit des Nationalsozialismus.
An diesem Sommertag also wollten meine Freundin und ich spielen, auf diesem zugewucherten Grundstück in der kleinen Promenade. Es gab kein Schild, keinen Zaun. Aber der Ort hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Es lagen vereinzelt noch Steine auf dem Boden, die an eine Grundmauer erinnerten. Gras und Grün überwucherten alles.
Abends dann erzählte ich, dass ich dort gespielt hatte. Meine Tante schaute mich nachdenklich an, ich muss so 9 oder 10 Jahre alt gewesen sein. „Geh dort bitte nicht zum Spielen hin. Es ist kein Spielplatz, sondern ein ehemaliges Gotteshaus.“
Ein Gotteshaus? Warum stand es nicht mehr? Was ist damit passiert, warum wurde es nicht wieder aufgebaut, warum gibt es kein Schild, warum, warum, warum…?
Mein Kopf war voller Fragen an diesem Abend. Und jede Antwort brachte eine neue hervor. Bis 1938 stand dort die Synagoge des kleinen Ortes. Am 9. November 1938 wurde sie in der „Reichspogromnacht“ niedergebrannt. Und die Familie meiner Mutter wohnte nur rund 50 Meter entfernt.
Wieder zuhause ging das Fragen weiter. Rund 30 jüdische Familien lebten in Linnich als meine Mutter klein war. Sie erzählte mir von ihrer besten Freundin Hannah, die 1938 mit ihrer Familie nach Amerika floh. Von dem Gegröle, den Flammen in der Novembernacht 1938. Und von den Nachbarn, Bekannten, die plötzlich nicht mehr da waren. „Natürlich haben wir das gemerkt, haben wir auch mitbekommen, wie sie abgeholt wurden. Aber es wurde gesagt, wir sollten nicht fragen,“ erinnerte sich meine Mutter.
Und wie war das in dem Ort nahe Düsseldorf, in dem ich aufgewachsen bin? Dann kam mein Vater dran, genau wie meine Mutter Jahrgang 1931. Fragen über Fragen. Er erinnerte sich noch genau an das weithin hörbare Geräusch, als das Klavier des jüdischen Musiklehrers aus dem Fenster geschmissen wurde. Meinem Großvater gelang es, den Sohn aus der Hitlerjugend herauszuhalten. Aber sonst? Widerstand oder Hinnehmen?
Meine Eltern haben meine Fragen immer beantwortet, auch wenn es manchmal nicht leicht war. Ich glaube, dass war ein Grundstein für mein Interesse an jüdischer Geschichte, an jüdischem Leben, am Miteinander von Christentum und Judentum. Und es war mit ein Grund, warum dies später ein Schwerpunkt meines Studiums wurde.
Ich habe seitdem mit vielen Zeitzeugen gesprochen, einige interviewt. Überlebende, die ihre Familien in Konzentrationslagern verloren haben, die als Kinder allein in fremde Länder geschickt wurden und über Jahrzehnte nach vielleicht noch lebenden Verwandten gesucht haben. Aber auch mit Zeitzeugen der Täterseite. Zeitzeugen, die den Nationalsozialismus als Kinder erlebten. Oder auch, die die Zeit als junge Erwachsene erlebten.
In einer Talkshow sah ich vor kurzem Michel Friedman, und er erzählte, wie ein Lehrer ihn einmal bat, ihm Kontakt zu einem Zeitzeugen des Holocausts zu vermitteln. Und Friedman sagte darauf wohl: Warum fragen Sie nicht ihren Vater?
Genau das ist es. Fragt Zeitzeugen, so lange es sie noch gibt. Hört, was die Überlebenden zu sagen haben. Aber fragt auch Großeltern, Eltern, Bekannte, die Teil des Deutschen Volkes waren, die zugesehen haben, es erlebt haben.
Ein Gedanke zu „Fragt, so lange ihr fragen könnt“
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