Ups – oder warum wir nicht auf andere schielen müssen

Alles fing mit dem Paketdienst auf der Straße an. „Mama, was bedeutet eigentlich Ups?“, fragt der Jüngste. „Ups? Wie kommst du jetzt darauf?“ „Das steht da auf dem Lieferwagen.“ „Hast du das gelesen?“, frage ich irritiert und schaue wohl auch genauso. Seitdem ist der Fünfjährige nicht mehr zu halten. „Da steht Ufo, was sind A-li-e-ns, wieso heißt es Zo-o, Ba-um-ha-us, ach Baumhaus.“ So geht es in einer Tour. Und ich finde es toll. Klar, er kommt erst nächstes Jahr in die Schule und bis dahin wird er wahrscheinlich ganze Texte lesen können, aber ich finde es toll. Und bin stolz auf ihn. Was ihn wiederum anspornt, noch mehr zu lesen. „Wenn wir einkaufen gehen, kann ich alles auf der Straße lesen. Das ist sooo toll, Mama.“

Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen. Meine älteste Schwester hat mich von klein an mit in die Bücherei genommen. Die Bücher plötzlich selber, allein lesen zu können, fand ich großartig. Plötzlich die Welt mit anderen Augen sehen lesen, etwas können, was meine großen Geschwister ganz selbstverständlich schon immer taten (schließlich sind sie 9 bis 14 Jahre älter als ich) – gigantisch. Und ich begann Bücher zu verschlingen.

image

Beim Abendessen erzählt der kleine dann dem großen Bruder, dass er lesen kann, erzählt vom Paketwagen. Ich sehe den kurzen Augenblick des Erschreckens im Gesicht des Großen. Dann das nachgeschobene „hab ich dir wahrscheinlich mal vorgelesen“. Jetzt hat er den Kleinen beim Ehrgeiz gepackt und der liest, was er auf dem Tisch finden kann. „Bio, Fett, Go-u-da, Apfel…“. Der Große schluckt und sagt toll. Aber ich merke schon, es brodelt was in ihm.

„Er wird jetzt doch erst ein Vorschulkind. Wieso kann er schon lesen?“ Beim ins Bett gehen kommt es raus, darauf habe ich gewartet. Er ist doch der Große, der dem Kleinen die Welt zeigt. Mit ihm Schule spielt, ihm Rechenaufgaben stellt, aber auch immer wieder betont, was der Jüngere noch nicht so kann. So gut zeichnen wie er. Rechenaufgaben nur bis 10 lösen. Und dann kommt dieser Kleine an und kann ausgerechnet Lesen. Das, was ihm unerwarteter Weise zu Schulbeginn am schwersten gefallen ist. Er hatte gedacht, die Buchstaben, das würde ihm zufliegen, wie die Matheaufgaben. Taten sie aber nicht. Er konnte sie alle, aber es brauchte gut ein halbes Jahr, einiges Üben und auch einige Wuttränen über das eigene Unvermögen des jungen Perfektionisten, bis es ‚Klick‘ machte, bis aus Buchstaben Wörter wurden. Ein toller Moment, an die Freude in seinem Gesicht damals kann ich mich immer noch genau erinnern. Und der Kleine kann das jetzt einfach so, ohne Üben, noch vor der Schule?

Er sagt dem Kleinen nichts darüber, bestärkt seinen Bruder. Aber an seinem Verhalten merkt man, es nagt in ihm. Er trödelt mehr, ist launiger, lässt in der Schule den Klassenclown raus. Da ist sie wieder, die doofe Eifersucht.

Und plötzlich zählt nicht mehr, was er alles kann. Super Rechnen. Tolle Kunstwerke malen. Überhaupt fliegt ihm alles Kreative zu. Er ist superschnell auf dem Fußballplatz, schießt Tore, hat Ausdauer. Er experimentiert liebend gern, ist neugierig und wissbegierig. Aber der kleine Bruder kann schon lesen.

Jeder kann etwas besonders gut, nicht alle können alles. Das ist mein derzeitiges Mantra. Ich erzähle ihm von meinen Geschwistern und mir, die Kompetenzen waren hier immer schon klar verteilt. Die Älteste ist der Kreativkopf, voller Ideen, die sie aber im Gegensatz zu mir auch handwerklich umsetzen kann. Die zweite Schwester ist der Struktur- und Orgamensch, für den eine knifflige Steuererklärung eine Herausforderung ist. Der Bruder ist der Mathe- und Technikfreak, ohne den ich wahrscheinlich nie Bruchrechnung und Kurvendiskussion verstanden hätte (Kurvendiskussion. Das sagt doch schon das Wort, dass die Lösung keine Gerade sein kann!). Gut, für mich blieb also nur – das Wort. Ich habe gelesen, gelesen, gelesen. Und erzählt, erzählt, erzählt, bis ich endlich schreiben konnte. So hat sich das ausgeglichen. Meine große Schwester hat für meinen Handarbeitsunterricht gestrickt, der Bruder hat mir Nachhilfe in Mathe gegeben, die andre Schwester hat mir Merkhilfen vermittelt, ich habe Aufsätze und Bewerbungen gegengelesen.

So einfach kann das sein. Aber wie kriegen wir das in den kleinen, nein, schon so großen Kopf des großen Bruders hinein?

Ihm ständig zeigen, was er schon kann. Ihn bestärken, in allem, was er macht. Ihm das Selbstvertrauen vermitteln, dass er genau richtig ist, so wie er ist, mit dem, was er kann. Ohne auf andere oder gar den Bruder schielen zu müssen.

Das, was wir eigentlich doch alle immer mal wieder brauchen. Wissen, dass man so angenommen wird, wie man ist, ohne alles – und das gar noch perfekt – können zu müssen. Und dann auch nicht auf das zu schielen, was andere besser können. Oder was ihnen anscheinend einfach so zufliegt.

Wir freuen uns jetzt erstmal auf den Ferienbeginn. Weniger Druck, mehr Ausgelassenheit. Und machen, was alle in dieser Familie gut können. Wir gehen Eis essen.

Zwei Hände sind nicht genug

Zwei Kinder, das ist doch ideal. Ein Geschwisterchen zum Spielen, zum Knuddeln, dem man als großer Bruder zur Seite stehen kann. Ja, genauso hatten wir uns das vorgestellt. Für uns stand immer fest, wenn Kinder, dann möchten wir zwei.

Ich bin auch immer noch davon überzeugt, dass es für uns genau die richtige Entscheidung war und ist. Dass es beiden Jungen gut tut, einen Bruder zu haben. Es gibt oft genug Momente, in denen man genau spürt, wie wichtig sie füreinander sind. Wenn der Große dem Kleinen das ABC erklärt, wenn der Kleine als erstes dem Großen erzählen muss, dass er in der Kita ein Tor gemacht hat. Natürlich geraten sie sich auch in die Haare. Oft. Manchmal hat man das Gefühl, sie tun es ständig. Aber auch das gehört dazu. Und mittlerweile sind sie einander auch kräftemäßig recht ebenbürtig, dann greift man nicht oder erst spät ein.

Völlig unterschätzt haben wir aber, wie wir zwei Kinder unter einen Hut bringen. Zwei eigenständige Köpfe, um nicht zu sagen, durchaus zwei Dickköpfe, die wissen, was sie wollen. Oder eben, was auch nicht.

image

In unserer meiner Vorstellung sah es immer so aus: Wochenende, ein Elternpaar macht mit seinen zwei entspannten Kindern einen wunderbaren Ausflug, viel Lachen, pure Harmonie, alle sind glücklich. Und außerdem galt für mich immer: ich hab zwei Hände, das passt doch mit zwei Kindern.

Gut, Alltag ist anders, ist schon klar. Das war ja auch nur das Traum-Ideal. Dennoch habe ich die Realität unterschätzt. Es sind Phasen, die vergehen. Das gilt für vieles in der Kinderentwicklung und beim zweiten wartet man vieles dementsprechend noch ab, während man beim ersten noch die Ursache suchte. Aber derzeit haben wir eine Phase, die uns die gemeinsamen Wochenende oft echt zur Qual macht.

Also, Ideal: Ich freue mich (immer wieder aufs Neue) auf das gemeinsame Frühstück, ein bisschen Spielen mit den Kindern, ein bisschen Spielen der Kinder miteinander, gemeinsame Erlebnisse.

Die Realität beim gemeinsamen Frühstück am Wochenende sieht dann so aus:

„Was machen wir heute, mir ist langweilig“, klagt der Große. „Ich will nicht raus. Ich will hier spielen“, beginnt der Kleine zu kreischen. „Fahrradtour.“ „Zuhause bleiben. „Raus.“ „Nein.“ „Doch.“ „Nein“…

Manege frei für zwei Kampfhähne. Der Große braucht Bewegung, am liebsten 12 Stunden täglich mit dem Ball. Der Kleine möchte nach der Kita-Woche einfach nur Ruhe, ungestört mit seinem Spielzeug spielen, vielleicht mal in den Garten. Zwischen ihnen liegen nicht nur 2,5 Jahre, sondern eben auch völlig unterschiedliche Bedürfnisse.

Deshalb sehen unsere Wochenenden derzeit dann gerne auch mal so aus: Papa geht mit dem Großen kicken, Mama spielt mit dem Kleinen ‚Tempo, kleine Schnecke‘. Oder Papa baut mit dem Kleinen ein Lego-Haus, während Mama mit dem Großen eine Radtour macht.

Es gibt Schlimmeres, klar. Aber es nervt. Und kostet auch enorm Kraft. Weil wir momentan oft das Gefühl haben, nicht mehr als Familie etwas machen zu können. Und wenn, nur mit größter Überzeugungskraft, viel gutem Zureden, lautem Geheule und Geschimpfe. Weil ich eben auch gern mal mit dem Mann und den Kindern etwas machen möchte.

Dazu kommt die Eifersucht des Großen, die er erst in den letzten Jahren stärker entwickelte. Die Angst zu kurz zu kommen, während ich eher das Gefühl habe, der Kleine steckt mehr zurück. Weil er es immer schon so kennt, dass da noch jemand ist. Und da ich nicht will, dass einer von beiden das Gefühl hat, zu kurz zu kommen, schaue ich, dass ich für beide immer auch Exklusivzeiten einrichte. Denn gegen besseren Wissens läuft in meinem inneren Kino doch immer wieder mal der eine Film: Und täglich grüßt das schlechte Gewissen.

Wer zu kurz kommt, ist dann das Elternpaar, das man ja auch noch ist. Und/oder man selbst.

Wenn die Kinder dann abends friedlich schlafen, dann träume ich: Von einem Urlaub am Meer zu Viert. In voller Harmonie. Mit ganz vielen gemeinsamen Familienerlebnissen. Ist ja noch ein bisschen Zeit bis zum Sommer. Denn das ist nur eine Phase. Das wird schon, oder? ODER?