Ich sitze neben deinem Bett, halte deine Hand und schaue aus dem Fenster. Von hier aus schaut man ins Grüne. Die Sonne scheint auf die Bäume, das Grün leuchtet richtig. Nur einer hat sich schon verfärbt, glitzert gelb im Sonnenlicht. Es ist doch erst Mitte August. Er kommt früh in diesem Jahr, der Herbst.
Mit einem Waschlappen die Stirn abwischen, die Arme kühlen, das tut so gut, sagst du immer wieder. Und doch halte ich dann wieder deine Hand, auch wenn das warm ist. „Du bist da, du bist bei mir“, sagst du immer wieder. Sie ist noch ein bisschen da, die Angst vor dem Gehen. Ich streichel deine Hand und denke – verkehrte Welt oder der Lauf der Zeit?
Eigentlich hast du meine Hand gehalten. Früher. Jeden Abend. Ich habe an der weichen Haut obendrauf gespielt, es hat dich manchmal wahnsinnig gemacht. Mich hat es immer beruhigt. Die Hand bekam ich trotzdem immer. Nun sitze ich da und denke, sie ist immer noch so weich, deine Haut. Aber du wirkst so klein und zerbrechlich, allein in diesem Krankenzimmer. Die Krankenschwester hat die Bilder der Jungs für dich aufgehangen, sie sind ein bunter Klecks im sterilen Weiß. Und du lächelst, wenn du sie siehst.
„Pass auf deine Jungs auf. Du hast so tolle Jungs. Nimm sie in den Arm, halt sie gut fest“, sagst du, bevor du wieder kurz einnickst. Eine Woche zuvor waren sie zu Besuch. Auf ein Eis in der Cafeteria. Du hast all deine Kraft zusammengenommen. 15 Minuten noch einmal die Oma, die sie kannten. Die Kleider konnten kaum verbergen, wie zerbrechlich du geworden warst. Dass der Stock allein nicht mehr als Stütze reichte. Sie haben dir stolz ihre Bilder gegeben und das Eis geschleckt. Du hattest Tränen in den Augen und ich wusste, du verabschiedest dich gerade, saugst den Anblick der beiden noch einmal auf.
Nach diesem Tag ging es so schnell. Die Angst vor dem, was kommt, war weg. Wie deine Kraft. Während ich deine Hand halte und denke, du schläfst, beginnst du plötzlich zu sprechen. „Ja, sie ist hier. Ich bin nicht alleine, meine Mädchen sind immer da.“ Drei Jahre lang hast du immer geschimpft, warum er dich nicht wenigstens im Traum besucht. Meine Schwester und ich haben von ihm geträumt, du nie. „Warum kommt er nicht mal im Traum vorbei, um mich zu trösten?“, hast du gefragt. Er hat dir so gefehlt. Und jetzt ist er da, im Traum in diesem Krankenzimmer. Steht da und wartet auf dich, drei Monate vor eurem 60. Hochzeitstag. Als du wach wirst, bittest du mich, dem Pfarrer Bescheid zu geben, ob er dich besuchen kommen könne.
Beim nächsten Besuch kannst du kaum noch sprechen. Der Pfarrer war da, alles ist vorbereitet, dass du nach Hause kommen kannst. Wir kommunizieren über das Hände halten. Ein fester Druck. Schön, dass du da bist. Noch einer. Das tut mir so gut. Mir auch, Mama. Mir auch.
Es ist mein letzter Besuch bei dir. Die Bilder der Jungs hängen Zuhause in deinem Zimmer, ein Foto von ihnen, ganz groß, damit du es ohne Brille sehen kannst. Hier kannst du loslassen. Und einen Tag später schläfst du ein.
Heute wollen wir dich feiern. Dein 86. Geburtstag. Und zugleich Sechswochenamt. So lange liegt deine Beerdigung schon zurück, und verstehen kann ich es immer noch nicht wirklich. Die Bilder der Jungs hast du mitgenommen ins Grab. Ich hoffe, sie bewirken immer noch ein Lächeln. Jetzt bist du bei ihm, dem Mann, mit dem du fast dein ganzes Leben verbracht hast, ohne den du nur schwer sein konntest. Und du bist bei deinem Erstgeborenem, der nur ein Tag alt wurde. Den sie dir damals vorenthielten, weil sie dachten, du seist nach der Geburt zu schwach, den du nicht halten durftest, bevor er unerwartet starb. Du und schwach. Eben das warst du nie. Viele haben es nie verstanden, warum es dir auch nach 60 Jahren noch weh tat. Ich weiß, wie es dich auch 2017 noch schmerzte, dass du nie ein Grab, keine Anlaufstelle für die Trauer um ihn hattest. Und ich hoffe so, dass ihr drei jetzt irgendwo zusammen seid, Papa, der unbekannte Bruder und du, und den heutigen Tag zusammen feiert.
Ich liebe den Herbst. Die Farben, das fallende Laub. Dein Geburtstag war für mich immer ein Startschuss für diesen. In diesem Jahr macht er mich erstmals auch melancholisch. Er kam früh in diesem Jahr, der Herbst.
Happy Birthday, Mama. Ich vermisse dich.
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