Es regnet. Dieser feine Nieselregen, der im Laufe eines kurzen Weges schon durch und durch geht. Es ist nicht richtig kalt, aber uselig. So sagt man hier im Rheinland. Ungemütlich. November eben. Und dann kommt der schwerste Teil meines Arbeitsweges. Die Fahrt mit der Bahn durch den Flughafen.
Sitzen bleiben. Nicht aussteigen. Nicht irgendein Last-Minute-Ticket kaufen, in den Flieger steigen, irgendwo aussteigen, was anderes sehen. Hallo Fernweh, da bist du ja wieder.
Der November macht es mir gerade schwer. So viele Termine, zu viel Stress, schlecht gelaunte Menschen um mich herum. So viel zu tun. Und dann stolper ich wieder über die Kiste aus dem Keller, die ich noch aussortieren wollte. Eine Kiste voll Urlaubserinnerungen, von Reisen in verschiedenste Länder. Nach gut 15 Jahren fällt er mir wieder in die Hände, ich wusste gar nicht mehr, dass ich ihn noch besitze. Ein Brief vom Weißen Riesen.
Ja, so haben wir ihn liebevoll genannt, den blassen Hünen mit den schwarzen Locken und dem Bart, wie er so in Irland am Strand stand und aussah, als könnte ihn nichts umwerfen. Der Weiße Riese, der eigentlich Daniel hieß, aus der Schweiz kam, Ingenieur war und sich ein Jahr Auszeit genommen hatte, um zu reisen. Der später noch wunderbare Geschichten per Post (ja, handgeschriebene Briefe, so lange ist es her) schickte, die wir weiterschreiben und zurückschicken sollten. Der mir das ‚wichtigste‘ Schweizer Wort versuchte beizubringen: Chuchichäschtli.
Plötzlich tauchen so viele Erinnerungen auf einmal wieder auf, dass sich mir der Kopf dreht.
Ich erinnere mich an John, der aussah, wie eine Touristenbroschüre eben einen Iren abbilden würde: Rote Haare, Sommersprossen. Er bewahrte mich davor, im Nichts mit dem wunderbarsten Sternenhimmel von einem Auto überfahren zu werden, weil ich auf der falschen Straßenseite ging. Er konnte wunderbar jonglieren und gab mir bei der Abreise von Dingle noch mit: „Übe jonglieren. Mit Jonglieren kommst du immer durchs Leben.“
Ich höre das Lachen von Anne Marie. meiner Teenager-Brieffreundin, die ich quer durch Irland bei meiner Reise immer auch suchte und mit der ich den letzten Abend auf der Insel durchgefeiert habe.
Ich denke an Kyeong, die im Wohnheim in New York auf dem gleichen Flur wohnte wie ich. Die mich zu ihrer Familie nach Washington einlud. Und mir einen Hauch von Korea mitten in den USA nahe brachte. Die mir zum Frühstück gekochtes Rindfleisch servierte und meiner Leidenschaft für Friedhofsspaziergänge in Arlington nachkam.
Ich blättere in den Kalligraphien, die mir Lili geschenkt hat. Deren Besuch mich in Brooklyns-Stadtteil Jamaika führte und die mir bei einer Tasse Tee von ihrem Leben, von Hass, Glück, Flucht, Liebe, Verlust erzählte und die sich zm Abschied eine Heinrich-Heine-Postkarte aus Düsseldorf von mir wünschte.
Mit fällt Georgios ein, der auf Korfu ein kleines Restaurant ganz versteckt in den Bergen und dennoch direkt am Meer führte. Tagsüber ging er fischen, abends servierte er den besten Oktopus, den ich je gegessen habe. Und dabei erzählte er vom Meer. Und als es zu dunkel für den Rückweg durch den Wald wurde, schipperte er uns mit seinem Boot in unsere Bucht und erzählte noch mehr Geschichten vom Meer. Und seinem Boot.
Wenn ich an den ersten und einzigen großen Urlaub mit meinen Eltern in Italien denke, dann fällt mir direkt das britische Mädchen ein, mit der ich auf der Luftmatratze im Mittelmeer lag, wo wir uns gegenseitig unsere Sprachen beibrachten.
Mir fallen Lasse und Nilla in Schweden ein, in Israel war Gabriel unser ständiger Begleiter, der mir zeigte, wie man am besten eine Pomelo isst. Ich denke an Enzo, der nach Australien auswanderte und mir die Faszination hochgiftiger Spinnen (ja, die können schön sein!) zeigte und an Peter, dessen Vorfahren aus dem Pott kamen, und der so ein besonderes Auge (und die entsprechende Kamera) für die Landschaft dort hat. Mir fällt die Höllanderin ein, deren Namen ich nicht kenne, die mir an einem Silvesterabend mit den Worten „Geef me een knuffel“ die Luft nahm.
Reisen heißt, andere Länder zu entdecken. Neue Landschaften, andere Kulturen, fremde Speisen kennenzulernen. Für mich aber heißt es vor allem, Menschen zu treffen. Menschen verschiedenster Herkünfte, verschiedenster Lebensweisen, verschiedenster Lebensmodelle. Und ich glaube, das ist es, was ich vermisse, wenn das Fernweh hin und wieder auftaucht.
Und sollte der Weiße Riese irgendwie an diesen Text kommen und ihn lesen: Ich hoffe Seppli verließ sein Häuschen und den dunklen Tannenwald und fand, wonach er suchte.
Und mit all diesen Menschen im Kopf vertreibe ich jetzt das Novembergrau. Es ist Advent. Zeit für Lichter und irgendwie bitte auch für ein bisschen Ruhe. Und für die Menschen, die mir heute am wichtigsten sind.