Tschüss

Geh niemals, ohne dich zu verabschieden.

Es sind solche Sätze von dir, die mir für immer im Ohr liegen. Die mein Handeln prägten und prägen. Ich gehe nie, ohne mich richtig zu verabschieden, in die Augen schauen, winken, drücken, umarmen, ein Kuss. Aus Angst, es nicht nachholen zu können.

Heute ist er da, der Tag, dem ich seit Monaten ängstlich entgegen sehe. Der Jahrestag. Heute vor einem Jahr gingst du. Ohne ein Wort des Abschieds. Einfach hingelegt, die Augen geschlossen. Kein Kuss, keine Umarmung. Unwiderruflich.

Ich bin gefahren, so schnell es nur ging. Habe geahnt, du bist nicht mehr da, wenn ich es bin. Dabei warst du immer da. „Du kannst immer zu mir, zu uns kommen. Wir sind da“, ist auch so ein Satz, der für dich steht.

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Als ich klein war, durfte ich, wenn ich Angst im Dunkeln hatte, in deinem Bett einschlafen. Das kleine Licht an der hölzernen Umrandung brannte für mich. Du hast mir Geschichten und Geschichte erzählt. Schon früh lernte ich über Napoleon und Waterloo. Du hast Geschichte erzählt, als wärest du dabei gewesen. Genau, du hast ja mit ihm Skat gespielt. Hast du ein Märchen erzählt, dann kamen mir die Figuren immer bekannt vor. Rotkäppchen sah mir erstaunlich ähnlich. Und ich musste mir keine Sorgen wegen des Wolfes machen, denn du warst der Jäger. Du, da war ich mir immer ganz sicher, beschützt mich. Wie in der Nacht, als ich mit meiner Schwester im Urlaub noch einmal in den Reitstall ging, und dann wurde von außen die Tür verriegelt. Du würdest schon kommen und uns finden, da war ich mir sicher.

Du hast mir mein Selbstbewusstsein gegeben. Jeder ist so richtig, wie er ist. Verbiege dich nicht für andere. Jemand redet schlecht über dich? „So lange man über dich redet, bist du nicht vergessen.“

Eine 6 in Mathe, der blaue Brief in Geschichte. Kann passieren. „Du lernst nicht für mich, du lernst für dich, für dein Leben.“ Nichts hat meinen Ehrgeiz mehr angestachelt als dieser Satz.
Denn du hast mir versichert, egal, was ich will, ich kann was draus machen, alles schaffen, wenn ich daran arbeite, etwas dafür tue. Und nie, nie sollte ich mir sagen lassen, ein Mädchen kann das nicht.

„Wer feiert, kann auch arbeiten“ war auch so ein Spruch. Du hast nie laut geschimpft oder große Szenen gemacht. Aber erwartet, dass man hält, was man versprochen oder zugesagt hat. Und so saß ich dann eben ohne zu Murren mit meinem ersten Kater und dickem Kopf in deiner Werkstatt, in der ich einen Ferienjob hatte, und konnte kaum dem Hammer halten.

Ich erinnere mich an die unzähligen Wochenenden auf Turnieren, wenn ich stolz mit dir im Verkaufszelt stand. Wie ich dich oft zu Ställen begleiten durfte, wenn du Sättel vor Ort angepasst hast. Wie du als Nikolaus mit der Kutsche angefahren kamst, mit dem goldenen Buch unterm Arm. Wie ich genau wusste, dass du es warst und dennoch ganz verschüchtert war.

Du hast so viel gelacht. So viel Quatsch gemacht. Ostern beim Eiertitschen heimlich ein Porzellanei benutzt und natürlich immer gewonnen. Warst König der Arschbomben im Freibad. Konntest Reimen wie kein Zweiter.

Du wusstest immer zu trösten. Selbst als du so da lagst, in der Kapelle aufgebahrt. Du sahst so friedlich aus.

Einfach einschlafen ist ein schöner Tod. So hast du es dir immer gewünscht, zuhause, bei Mama. Und doch hätte ich mich so gerne verabschiedet.

Tschüss, Papa.

4 Gedanken zu „Tschüss“

  1. Mein herzliches Beileid! Mir rinnen die Tränen über die Wangen, obwohl ich den wunderbaren Menschen gar nicht kannte! Alles Gute, Erika

  2. Schöne Worte. Ich wünsche mir, dass ich meinen Töchtern das geben kann, was Dein Vater Dir gab. Deine Worte würden ihn glücklich machen. Wer weiß, vielleicht freut er sich gerade irgendwo ;).

  3. Hallo, liebe Schreiberin,
    mir kommen auch die Tränen, denn ich weiß, wovon du schreibst, er war
    schließlich mein Bruder. Auch wenn wir nie viel zusammen waren, doch
    waren wir uns nah. Wir wussten, wir hatten uns noch, auch wenn Eltern
    und Schwester lange nicht mehr unter uns weilten. Aber ganz einfach,
    es war noch jemand da. Ich trauere auf meine Weise, ganz für mich allein.
    Vielen Dank für Deine schönen Worte, obwohl der Anlass schrecklich ist.
    Deine Tante aus Büttgen.

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